Sechzehntes Kapitel

[137] Wie Lazaro sich zum zweiten Male verheiraten wollte.


Eines Tages ging ich nach meiner Gewohnheit durch die Straßen, um Almosen zu betteln, und kam an die Tür eines kleinen Hauses, wo ich dies ebenfalls tat. Da hörte ich, daß man mir von einer Treppe herunter zurief: Warum kömmst du nicht herauf, Vater? Komm doch herauf! Was für eine Neuerung ist denn das? – Ich stieg hinauf, und mitten auf der Treppe, die etwas finster war, fielen mir einige um den Hals, andre faßten mich bei den Händen, durchsuchten meine Taschen, und alle fragten, warum sie mich seit acht Tagen nicht gesehen hätten?

Als wir die Treppe erstiegen hatten und sie mich bei der Hellung der Fenster sahen, waren sie alle erstaunt und versteinert und brachen in ein lautes Gelächter aus. Niemand sprach ein Wort, und der erste, der die Stille unterbrach, war ein Kind, welches sagte: Das ist ja nicht Papa! – Nachdem sich das Gelächter der Weiber, deren viere[137] waren, ein wenig gelegt hatte, fragten sie mich, für wen ich Almosen sammle? Wie? sagten sie, befindet sich denn Vater Ansehn nicht wohl? – Sehr wohl, erwiderte ich, es tut ihm nichts mehr weh; denn es sind acht Tage, seit er gestorben ist. – Als sie dies hörten, fingen sie zu weinen an, und wenn vorher ihr Gelächter groß gewesen war, so war jetzt ihr Weinen noch größer. Die eine schrie: Was soll ich Unglückliche machen ohne Mann, ohne Stütze und Trost? Wie wird es mir ergehen? Wer wird sich meiner annehmen? O schreckliche Neuigkeit! – Eine andere fiel klagend ein: O mein Schwiegersohn und Herr! wie hast du uns verlassen können, ohne Abschied von uns zu nehmen? O meine verwaisten Enkelchen, wo ist euer guter Vater? – Die Kinder sangen den Diskant zu dieser mißtönenden Musik. Alle weinten, alle schrien; nichts als Klagen und Jammern.

Als die Wasser dieser großen Überschwemmung ein wenig nachließen, fragten sie mich, wie und warum er gestorben sei? Ich erzählte es ihnen und gab ihnen Nachricht von dem Testamente, welches er gemacht, und wie er mich zu seinem rechtmäßigen Erben eingesetzt hatte. Jetzt änderte sich auf einmal die Szene. Die Tränen kehrten sich in Wut, das Geschrei in Flüche und das Jammern in Drohungen. Ihr seid ein Mörder, schrie die jüngste von ihnen, und habt ihn umgebracht, um ihn zu berauben. Aber Ihr sollt Euch dessen nicht erfreuen; denn dieser Eremit war mein Mann, und diese Kinder sind die seinigen. Wenn Ihr uns nicht sein ganzes Vermögen herausgebt, so sollt Ihr an den Galgen; und tut dies die Gerechtigkeit nicht, so gibt es Dolche und Degen genug, Euch tausend Leben damit zu nehmen, wenn Ihr sie hättet! – Ich sagte ihnen, daß ich gute Zeugen hätte, in deren Gegenwart er[138] sein Testament gemacht habe. – Das sind lauter Lügen und Betrügereien, sagten sie; denn an demselben Tage, an welchem er, wie Ihr sagt, gestorben ist, war er hier und sagte, daß er ohne alle Gesellschaft sei.

Da ich wußte, daß das Testament nicht förmlich durch einen Notar abgefaßt war, und da die Weiber mir mit einem Prozesse drohten, so beschloß ich, weil ich die Gerechtigkeit und die Prozesse schon kannte, gelinde mit ihnen zu sprechen, um zu sehen, ob ich auf diese Art das erhalten könnte, was ich bei Gerichte zu verlieren versichert war; auch hatten die Tränen der jungen Witwe mein Herz ganz umgewendet. Ich sagte ihnen also, sie möchten sich beruhigen, sie würden bei mir nichts verlieren; denn wenn ich auch die Erbschaft empfangen hätte, so wäre es nur geschehen, weil ich geglaubt, der Verstorbene sei nicht verheiratet, da ich niemals gehört, daß Einsiedler Weiber hätten.

Sie legten jetzt alle Traurigkeit und Schwermut ab, lachten und sagten, sie sähen, ich müßte wohl ein Neuling und wenig in dieser Lebensart erfahren sein, da ich nicht wisse, daß, wenn man einen Einsiedler einsam nenne, sich dies nicht auf den Umgang mit Weibern erstrecke; denn es gebe nicht einen einzigen, der nicht zum wenigsten ein Weib hätte, mit dem er die Zeit hinbrächte, die ihm seine Betrachtungen übrig ließen. Und noch überdies seien es Leute, die am besten den Willen Gottes kennten, der verlange, daß der Mensch nicht allein sei; und so hätten sie, als gehorsame Söhne, ein oder zwei Weiber, die sie von ihren Almosen ernährten. Dieser Unglückliche habe sogar viere erhalten: diese arme Witwe, sie selbst, die sie ihre Mutter sei, diese zwei Mädchen, ihre Schwestern, und diese drei Kinder, seine Söhne. – Jene, die sie sein Weib[139] nannten, verlangte, man solle sie nicht die Witwe dieses alten Geizhalses nennen, der sich ihrer nicht einmal an seinem Sterbetage erinnert habe, und sie wolle schwören, daß diese Kinder nicht sein wären.

Ich war ganz erstaunt und wußte nicht, was ich sagen sollte. Sie öffneten mir aber den Weg zu meinem Wunsche; denn die Witwe fiel mir um den Hals und sagte: Hätte der Undankbare das Gesicht dieses Engels gehabt, ich hätte ihn ewig geliebt! – Und mit diesen Worten küßte sie mich. Durch diesen Kuß war mein ganzes Herz für sie eingenommen, und ich sagte zu ihr, wenn sie Lust hätte, aus dem Witwenstande zu treten und die Meinige zu werden, so würde ich den Heiratsvertrag des Verstorbenen erfüllen. Damit waren sie zufrieden und verlangten nur, ich möchte ihnen alles ausliefern, was sich in der Einsiedelei befände, damit sie es aufbewahrten. Ich versprach ihnen dies, war aber willens, das Geld auf alle Fälle zurückzubehalten.

Die Vollziehung der Vermählung wurde bis zum folgenden Tage verschoben, und diesen Abend schickten sie eine Karre zur Einsiedelei, auf der sie alles bis auf die Nägel wegführten. Selbst das Altartuch und die Kleidung des Heiligen verschonten sie nicht. Nichts als eine elende härne Decke ließen sie mir, um darauf wie ein Hund zu schlafen.

Als mein zukünftiges Weib, das mit der Karre gekommen war, sah, daß kein Geld da war, ward sie böse; denn der Alte hatte ihr gesagt, daß er Geld hätte, aber nicht wo. Sie fragte mich, ob ich nicht wisse, wo der Schatz läge, und ich antwortete ihr: Nein. Sie war aber schlau, faßte mich bei der Hand, ihr suchen zu helfen, und führte mich so in allen Winkeln der Einsiedelei herum. Sie stieß auch auf das Altargestelle, und da sie sah, daß es neuerlich ausgebessert[140] war, schöpfte sie sogleich Verdacht, umarmte und küßte mich und sagte: Mein Leben, sage mir, wo das Geld steckt, damit wir damit eine recht fröhliche Hochzeit halten können. – Ich blieb dabei, ich wisse nichts vom Gelde. Sie nahm mich darauf bei der Hand und führte mich außen um die Einsiedelei herum, indem sie mir dabei unaufhörlich ins Gesicht sah. Als wir an den Ort kamen, wo ich es verborgen hatte, richteten sich meine Augen unwillkürlich dahin. Sie hob nun mit Hilfe ihrer Mutter den Stein auf, den ich daraufgelegt hatte, und fand es. Ich glaubte zu vergehen, verstellte mich aber und sagte: Nun, damit können wir ein gutes Leben führen. Sie machten mir tausend Liebkosungen, und da es schon spät war, kehrten sie nach der Stadt zurück, nachdem wir vorher übereingekommen waren, daß ich den nächsten Morgen in ihr Haus kommen sollte, um daselbst die fröhlichste Hochzeit zu feiern, die jemals gewesen wäre.

Gott gebe es! sagte ich bei mir selbst und brachte die ganze Nacht in Hoffnung und Furcht, diese Weiber möchten mich betrügen, schlaflos hin, obschon es mir unmöglich schien, daß unter einem so guten Gesicht Betrug stecken sollte. Die Nacht schien mir eine Ewigkeit, und es dämmerte kaum, als ich meine Einsiedelei zuschloß und zur Hochzeit ging.

Ich kam eben an, als sie aufstanden, und sie empfingen mich mit großer Freude, so daß ich mich für überglücklich hielt und alle Furcht ablegte. Ich fing an, im Hause auf- und umzuräumen, gleich als ob es schon mein eigen wäre. Wir aßen so gut und so vergnügt, daß ich glaubte, ich befände mich im Paradiese. Sie hatten noch sechs bis sieben Freundinnen eingeladen. Nach Tische wurde getanzt, und sie nötigten mich (obgleich ich nichts[141] davon verstand), mitzutanzen. Es war zum Lachen, mich in meinen Eremitenkleidern tanzen zu sehen.

Es wurde Abend, und nachdem wir recht gut gegessen und noch besser getrunken hatten, führten sie mich in ein wohleingerichtetes Zimmer, worin ein gutes Bett stand. Sie befahlen mir, mich darauf niederzulegen, und während sie meine Braut entkleideten, kam eine Magd, band mir meine Schuhe ab und sagte mir, ich müsse mich völlig ausziehen, weil dies zur Zeremonie nötig sei. Ich tat es, und sogleich traten alle Weiber auf einmal herein, und unter ihnen meine Braut im Hemde, der eine die Schleppe nachtrug. Viere von ihnen faßten mich hierauf, zwei bei den Beinen und zwei bei den Händen, warfen Schlingen über sie und banden die Stricke an die vier Bettpfosten an, so daß ich wie St. Andreas auf dem Kreuze ausgespannt dalag. Als ich festgebunden war, so daß ich mich nicht regen konnte, verspotteten sie mich, gossen einen Topf eiskaltes Wasser über mich her und steckten darauf meinen Kopf in heißes Wasser. Ich schrie, aber sie gaben mir so viele Schläge, daß ich es für das Ratsamste hielt, sie gewähren zu lassen. Sie zupften mir nun die Haare des Bartes und der Augenbrauen aus und sagten: Nur Geduld, die Zeremonien sind bald vorüber!

Ich bat sie, sie möchten mich nun in Ruhe lassen; aber vergebens. Jetzt wendete ich, da sie immer schlimmer mit mir verfuhren, alle meine Kraft an, so daß ein Strick zerriß und ein Pfosten des Bettes brach. Damit ich nicht das ganze Bett zerbrechen möchte, banden sie mich los, legten mich auf ein Tuch und prellten mich so lange, bis ich halbtot dalag. Dies, Herr Eremit, sind die Zeremonien, womit sich unsre Hochzeit anfängt; morgen, wenn Ihr zurückkehren wollt, werden wir das übrige vollenden.[142]

Sie hoben mich nun auf, trugen mich fort und legten mich fern von ihrem Hause auf die Gasse, wo mich der Tag fand. Die Gassenbuben setzten mir so zu, daß ich, ihnen zu entfliehen, mich in eine Kirche, an den Hochaltar rettete, wo man eben eine Messe hielt. Als die Priester diese Gestalt sahen, die ohne Zweifel dem Teufel glich, den man zu den Füßen des heiligen Michaels malt, liefen sie davon und ich, um den Verfolgungen der Knaben zu entgehen, hinter ihnen her. Die Leute in der Kirche schrien: Das ist der Teufel! andere: Es ist ein Rasender! und ich schrie ihnen zu, ich sei weder der Teufel noch ein Rasender, sondern ein unglücklicher Mensch, den seine Sünden so weit gebracht hätten.

Jetzt beruhigten sich alle, und die Priester kehrten zurück, ihre Messe zu beendigen. Der Küster gab mir einen Teppich von einem Grabmal, um mich damit zu bedecken. Ich kroch in einen Winkel, stellte über den Wankelmut des Glücks Betrachtungen an und beschloß, in dieser Kirche zu bleiben, um hier mein Leben zu beschließen, das, nach den unzähligen Unglücksfällen, die ich erlitten habe, nicht lange mehr dauern wird.

Dies, geneigter Leser, ist der zweite Teil des Lebens des Lazarillo. Ich habe von dem, wie ich es von meiner Urgroßmutter erzählen hörte, nichts weggelassen und nichts hinzugetan. Wenn dir es Vergnügen gemacht hat, so freue ich mich darüber. Und damit Gott befohlen!


Ende[143]

Quelle:
Mendoza, D. Diego Hurtado de: Leben des Lazarillo von Tormes. Berlin 1923, S. 137-144.
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