Lenz, wer kann dir widerstehn?

[32] Jedem, außer an die Toten,

Sendet Frühling einen Boten,

Ein Gezwitscher aus den Lüften,

Eines Wölkchens helles Wehn,

Einer roten Knospe Springen,

Irgendein verstohlnes Düften,

Oder ein verlornes Singen –

Lenz, wer kann dir widerstehn?


Durch das Wiesengrün, das linde,

Wandr ich mit dem eignen Kinde

Und es kann an Murmelbächen

Nicht mit stummen Lippen gehn –

Wann die Knospen alle brechen,

Wollen Lippen sich entfalten,

Auf den jungen, auf den alten,

Will ein kleines Lied entstehn.
[32]

Lieb und Lust und Leben saugen

Will ich aus den Kinderaugen,

In dem Blicke meiner Kleinen

Will ich nach dem Himmel spähn,

Ja, es ist das gleiche Scheinen,

Hier im Blauen, dort im Blauen,

Und das selbige Vertrauen –

Lenz, wer kann dir widerstehn?


Kuckuck ruft! willst du erfahren

Deine Jahre, gläub'ge Seele?

Kuckuck ruft im Walde, zähle!

Neun und zehn und mehr als zehn...

Ei, das will ja gar nicht enden,

Frühling schenkt aus vollen Händen –

Soll auf diesen blonden Haaren

Noch den Myrtenkranz ich sehn?...


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 32-33.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1892)
Gedichte.
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Ausgewählte Novellen / Gedichte (Fischer Klassik)
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen III und IV
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen VIII und IX. Nachträge, Verzeichnisse, Register zu den Bänden 1 bis 7