Alte Schrift

[72] Jüngst verlockt' es mich im Abendglimmen

Zum Lombardenturm emporzuklimmen,

Dem verschollnen Herrscher hier im Gaue,

Der die Ferne noch beherrscht, die blaue.


In den Mauern bin ich lang geblieben:

Alte Namen standen rings geschrieben[72]

Hoch im Raume, wo die Luken schimmern,

Doch die Wendeltreppe lag in Trümmern.


Die den Blick ins Weite dort gerichtet,

Ihre Wanderstäbe sind vernichtet,

Ihre leichten Mäntel sind verstoben,

Ihre Sprüche blieben aufgehoben.


Einer dichtet anno fünfzehnhundert:

»Gott hab ich in der Natur bewundert!«

»Gaudeamus!« gräbt ein flotter Zecher

Um den keck entworfnen Riesenbecher.


Dort ein Herz von einem Pfeil durchschnitten:

»Hedewig« steht auf des Bolzes Mitten;

Dicht daneben schrieb ein Fahrtgenosse

Gut lateinisch eine derbe Posse –


Dann in des Kastelles tiefem Schatten

Warfen sich die Schüler auf die Matten

Leerten einen Humpen und von dannen

Pilgerten sie singend durch die Tannen.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 72-73.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1892)
Gedichte.
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Ausgewählte Novellen / Gedichte (Fischer Klassik)
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen III und IV
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen VIII und IX. Nachträge, Verzeichnisse, Register zu den Bänden 1 bis 7