Der Hengert

[65] Vater Lucas sprach beim Frühstück:

»Heute, Herr, ist hier ein Hengert!«

Und ich fragte: »Was ist Hengert?«

Mich belehrte Vater Lucas:

»Hengert, Herr, bedeutet Reigen,

Ball und Sprung und Fußgezappel

In der Sprache der Grisonen

Und Ihr möchtet böse schlummern,

Sucht Ihr heut nicht stillre Ruhstatt!«


»Vater Lucas, keine Sorge!

Hab ich erst mich müd gewandert,

Schlief' ich auch in einem Meersturm!«


Freudig nahm ich meinen Bergstock,

Stieg hinan die saft'gen Weiden,

Wo sich tummeln braune Fohlen,

Durch bewegliches Gerölle

Klomm ich auf zum sel'gen Gipfel,

Den mit leichtem Kuß berühren

Heimatlose Wanderwolken.
[65]

Müde kehrt ich heim ins Berghaus

Um die Zeit der ersten Lichter.

Vor der Pforte stand ein Häuflein,

In der Mitte Musikanten,

Rechts die Bursche, links die Mädchen,

Doch kein Scherzwort flog herüber

Und hinüber flog kein Trutzwort.

Lässig mit gekreuzten Armen

Standen sie geschieden, feindlich

Sich mit dunkeln Blicken messend.


Und ich stieg in meine Kammer,

Legte mich getrost zur Ruhe.

Bald erklang Musik piano,

Allgemach begann der Hengert,

Sachte schritt er, schläfrig schleift' er,

Wie Geschlurfe von Pantoffeln.

Heimlich spottet ich der trägen

Füße, der bequemen Herzen

Im Gebirge der Grisonen

Und versank in süßen Schlummer...


Horch! Ein Ton, ein feurig greller,

Schlägt empor wie eine Flamme!

Jach erhitzen sich die Bleche

Und die Geige streicht ein Dämon!

Mir zur Rechten, mir zur Linken,

Mir zu Häupten, mir zu Füßen,

Ungezügelt, ungebändigt,

Erderschütternd stampft der Reigen,

Immer lauter, wilder, toller

Tobt und rast und dröhnt und tritt er,

Daß erbeben alle Balken.

Tosend sausten durch die Lüfte

Berghaus, Hengert, Folterkammer,

Wie voreinst die hochgelobte

Casa santa durch die Lüfte

Fuhr von Istrien nach Loretto,

Doch von Engeln sie getragen,

Ich von höllischen Gewalten

An den Sabbat auf dem Blocksberg...
[66]

Also ging es bis zum Morgen,

Da die heil'ge Frühe löschte

Stern an Stern am ew'gen Leuchter

Über schwarzen Tannenbergen.

Lechzend öffnet ich das Fenster,

Einzuschlürfen Morgenlüfte,

Abzukühlen die zertanzte

Fieberschwüle Stirn im Winde...

Wagen rollten in die Ferne,

Trugen fort die letzten Gäste.

Unterm Vordach ein Geflüster –

Ein aus tiefster Brust geseufztes,

Ein aus tiefster Brust erwidert,

Leidenschaftliches Addio...

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 65-67.
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