Der Kaiser und das Fräulein

[61] Hoch am Septimer, dem Kaiserpasse –

Denn die Kaiser pflegten nach Italien

Über dieses Bergesjoch zu reiten –

Hielt ich unter steilen Sonnenstrahlen

Mittagsrast. Mir gegenüber wand sich

Um den Felsen noch ein Stück des alten

Saumwegs, schwebend über jähem Abgrund.

Mittag ist des Berges Geisterstunde.

In die Sonne blinzelt ich. Ein Hornruf!

Banner flattern. Schwert und Bügel klirren.

Fraun und Ritter gleiten aus den Sätteln.

Sorglich leiten Säumer scheue Rosse.

Die gestrenge Kaisrin seh ich schreiten,

Ein versteinert Weib mit harten Zügen.

Hinter ihr die Fräulein. Einer Zarten

Schwindelt plötzlich. Ihre Kniee wanken.

Sich entfärbend lehnt sie an die Bergwand...

Rasch ein Held – er trägt das Kaiserkrönlein

Um die Kappe – fängt in seinen mächt'gen

Armen auf das wanke Kind und trägt es

An die Brust gedrückt. Das Mädchen schwebte

Sicher überm Abgrund und er raubt' ihr

Einen flücht'gen Kuß. Da schwand das Blendwerk.

Weiter pilgernd rätselt ich ein Weilchen:

War es einer der Ottonen oder

War's ein Heinrich oder war's ein Friedrich,

Der die wehrlos Schwebende geküßt hat?


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 61.
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