Die alte Brücke

[60] Dein Bogen, grauer Zeit entstammt,

Steht manch Jahrhundert außer Amt;

Ein neuer Bau ragt über dir:

Dort fahren sie! Du feierst hier.


Die Straße, die getragen du,

Deckt Wuchs und rote Blüte zu!

Ein Nebel netzt und tränkt dein Moos,

Er dampft aus dumpfem Reußgetos:


Mit einem luftgewobnen Kleid

Umschleiert dich Vergangenheit

Und statt des Lebens geht der Traum

Auf deines Pfades engem Raum.


Das Carmen, das der Schüler sang,

Träumt noch im Felsenwiderklang,

Gewieher und Drommetenhall

Träumt und verdröhnt im Wogenschwall.


Du warst nach Rom der arge Weg,

Der Kaiser ritt auf deinem Steg,

Und Parricida, frevelblaß,

Ward hier vom Staub der Welle naß!
[60]

Du brachtest nordwärts manchen Brief,

Drin römische Verleumdung schlief,

Auf dir mit Söldnern beuteschwer

Schlich Pest und schwarzer Tod daher!


Vorbei! Vorüber ohne Spur!

Du fielest heim an die Natur,

Die dich umwildert, dich umgrünt,

Vom Tritt des Menschen dich entsühnt!


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 60-61.
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