Gespenster

[72] Am Horizonte glomm des Abends Feuer;

Ich stieg, indes die Purpurglut verblich,

Zum Römerturm empor und lehnte mich

Randüber auf das dunkelnde Gemäuer –


Und sah, wie sich am Hange, scheu und scheuer,

Die Beerenleserin vorüberschlich.

Das arme Weibchen drückt' und duckte sich

Und schlug ein Kreuz: ihr war es nicht geheuer...


Mich flog ein Lächeln an. Im Eppich neben

Der Brüstung flüstert's: »Freund, in deinem Leben

Ist auch ein Ort, wo die Gespenster schweben!


Führt dich Erinnrung dem zerstörten Ort

Vorbei, du huschest noch geschwinder fort,

Als das von Grauen gepackte Weibchen dort.«


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 72.
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