Reisephantasie

[61] Mittagsruhe haltend auf den Matten

In der morschen Burg gezacktem Schatten,

Vor dem Türmchen eppichübersponnen,

Hab ich einen Sommerwunsch gesonnen,

Während ich ein Eidechsschwänzchen blitzen

Sah und, husch, verschwinden durch die Ritzen...


Wenn es lauschte... wenn es meiner harrte...

Wenn – das Pförtchen in der Mauer...

Dem Geräusche folgend einer Schleppe,

Fänd ich eine schmale Wendeltreppe

Und, von leiser Hand emporgeleitet,

Droben einen Becher Wein bereitet...

Dann im Erker säßen wir alleine,

Plauderten von nichts im Dämmerscheine,

Bis der Pendel stünde, der da tickte,

Und ein blondes Haupt entschlummernd nickte,

Unter seines Lides dünner Hülle

Regte sich des blauen Quelles Fülle...

Und das unbekannte Antlitz trüge

Ähnlichkeiten und Geschwisterzüge

Alles Schönen, was mir je entgegen

Trat auf allen meinen Erdewegen...

Was ich Tiefstes, Zartestes empfunden,

Wär an dieses blonde Haupt gebunden

Und in eine Schlummernde vereinigt,

Was mich je beseligt und gepeinigt...

Dringend hätt es mich emporgerufen

Dieser Wendeltreppe Trümmerstufen,

Daß ich einem ganzen vollen Glücke

Stillen Kuß auf stumme Lippen drücke...

Einmal nur in einem Menschenleben –

Aber nimmer wird es sich begeben!


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 61-62.
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