In einer Sturmnacht

[137] Es fährt der Wind gewaltig durch die Nacht,

In seine gellen Pfeifen bläst der Föhn.

Prophetisch kämpft am Himmel eine Schlacht

Und überschreit ein wimmernd Sterbgestöhn.


Was jetzt dämonenhaft in Lüften zieht,

Eh das Jahrhundert schließt, erfüllt's die Zeit –

In Sturmespausen klingt das Friedelied

Aus einer fernen, fernen Seligkeit.


Die Ampel, die in leichten Ketten hangt,

Hellt meiner Kammer weite Dämmerung.

Und wann die Decke bebt, die Diele bangt,

Bewegt sie leise sich in sachtem Schwung.
[137]

Mir redet diese Flamme wunderbar

Von einer windbewegten Ampel Licht,

Die einst geglommen für ein nächtlich Paar,

Ein greises und ein göttlich Angesicht.


Es sprach der Friedestifter, den du weißt,

In einer solchen wilden Nacht wie heut:

»Hörst, Nikodeme, du den Schöpfer Geist,

Der mächtig weht und seine Welt erneut?«

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 137-138.
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