Das kaiserliche Schreiben

[153] Petrus, schreib – zu seinem Kanzler

sprach's der gramverstörte Staufen –

Satteln sollen meine Boten,

hundert Rosse sollen laufen!

Meinen Eignen, meinen Städtern,

meinen Pfaffen und Baronen!

Dem Geringsten wie dem Höchsten!

allen, die das Reich bewohnen!

Klage! Klage! Totenklage!

Meinen Sohn hab ich verloren...

Heinrich mit den finstern Locken...

den Konstanze mir geboren1...[153]

Der das Reich verriet... dem eignen

Vater brach das Lehnsversprechen...

Den ich beugen, beugen mußte,

dessen Trotz ich mußte brechen...

Lange brütet' er im Kerker –

endlich hat er mich gerufen –

Da ich kam, flog er vorüber,

flog empor die Wendelstufen –

Wieder war's, als ob, verzweifelnd,

er vom höchsten Söller riefe –

Da! Der Knabe springt vor meinen

Augen in die Todestiefe!

Jammeranblick ohnegleichen!

Kommt, daß wir zusammen klagen!

Helft mir meine schlimmen Träume,

meine Nachtgedanken tragen! –

Könnt ich ihn erwecken, nimmer

würd ich aus dem Arm ihn lassen!

Saget, ist es nicht entsetzlich,

daß mein Kind mich mußte hassen?

Petrus, zeig mir was du schreibest!

Willst du mir den Mund verhalten?

Über meine Qualen wirfst du

würdevolle Purpurfalten?

Meines Knaben Schrei erstickst du?

Meine Tränen sind verboten?

Kanzler Petrus, schreibe Wahrheit

über mich und meinen Toten!

Reden will ich zu den Vätern:

Sagt mir, würdet ihr nicht einen

Knaben, der euch Not und dunkeln

Kummer brachte, doch beweinen?

Den ihr in der Wiege küßtet –

ob er auch ein Arger wäre –

Wenn er ginge zu den Schatten,

weigertet ihr ihm die Zähre?

Prüfet eure Herzen, Väter!

Was wir von den Kindern dulden,

Ist es nicht gerechte Sühne,

nicht das eigene Verschulden?...

Petrus, du erschrickst, so ende![154]

Ende mit dem kurzgefaßten

Reichsbefehl: Wir ordnen Trauer

an für diesen Frühverblaßten.

1

Dieser König Heinrich ist der Sohn des genialen Kaisers Friedrich II., gegen den er sich empörte. Er starb im Kerker, und man sprach von Selbstmord.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 153-155.
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