LV
Das fallende Laub

[436] Heut klang ein Beil den ganzen Morgen laut

Und bis zum Abend fort. Der Schaffner baut.


Ein Vordach nur, doch mocht ich's gerne sehn,

Ist's doch ein Werden, ist's doch ein Entstehn!


Da war ein Zimmrer, der es wacker trieb

Und seinen Balken säuberlich behieb.
[436]

In guten Treuen mühte sich der Mann,

Daß ihm das Wasser von der Stirne rann.


Am Abend kam der Zimmermeister leis,

Mit langgelocktem Bart ein güt'ger Greis,


Und rührt' dem Knecht, der nimmer wollte ruhn,

Die Schulter mahnend: »Lieber, feire nun!«


Jetzt ward die Stätte leer; ich aber schlich

Hinaus und auf den Balken setzt ich mich.


Betrachtend das behaune Tannenstück,

Dacht ich ans eigne Tagewerk zurück...


Ich starrte nieder, der Gedanken Raub,

Da traf die Schulter mir ein fallend Laub.


Mich schauderte, da ich das Blatt gespürt,

Als hätte mich des Meisters Hand berührt


Und mich gemahnt: Genug! Die Sonn ist fern,

Geh ein, du Knecht, zur Ruhe deines Herrn!

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 436-437.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Huttens letzte Tage
Huttens letzte Tage. Eine Dichtung.
Conrad Ferdinand Meyer: Huttens letzte Tage / Das Amulett/ Der Schuß von der Kanzel
Huttens letzte Tage, Engelberg