XXIII
Die Flut

[398] In meine Kammer blickt das blaue Licht

Der nahen Flut. Ich widerstehe nicht.


Die Mittagssonne rüstet mir das Bad,

Ich schleiche mich verstohlen ans Gestad.


Ich hab es eilig. Wär mein Pfleger hier,

Mich hieß' er Waghals und verwehrt' es mir.


Zum Strande nieder führt mich diese Schlucht

Und krause Wellchen plätschern in der Bucht.


Hinaus! Hinaus! Du abgrundkühle Flut,

Wie tust du meinem heißen Herzen gut.


Mit blauen Bannern ziehst du weit heran

Und immer neue Heere seh ich nahn.


Die Reihen schlagen mit gelindem Prall

Mir an die Brust und brechen sich am Wall.


Noch lob ich meiner Arme Schwung und Zug –

Nur etwas sachter – eben Kraft genug.


Die Kunst des Knaben hab ich nicht verlernt,

Doch sind die Ufer weiter hier entfernt.


Ich schlug als Kind in übermüt'ger Lust

Den sanften Main und trat ihn auf die Brust.


Da hab ich unter mir zu sehn geglaubt

Ein schilfbekränztes, göttlich mildes Haupt.
[398]

Es war mir immer nur zu nah das Land,

Mich warf der Flußgott scherzend auf den Sand.


Was einst des Knaben Spiel und Freude war,

Wird nun dem Mann zur Arbeit und Gefahr.


Er weiß es, wenn er ringt und wenn er strebt,

Daß er auf einer Todestiefe schwebt!

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 398-399.
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Huttens letzte Tage, Engelberg