XLVIII
Abendstimmung

[427] Des Morgens lacht wie eine junge Frau,

Streng blickt am Abend meine Ufenau,


Durch Flutendunkel geisterhaft gestreckt,

Von nahen Bergesschatten zugedeckt.


Lang hat sich das Soldatenschiff ergetzt

An einem Echo. Beide schweigen jetzt


Verklungen ist der Vesperglocke Schall,

Ein dunkler Friede waltet überall.


Wär ich ein Jüngling voller Leidenschaft,

Beängstigt von der eignen Lebenskraft,
[427]

In Tränen löste sich, was bang und wild

Ein junges Herz bestürmt, vor diesem Bild.


Nun hab ich handelnd meine Glut gedämpft,

Den Vesperfrieden hab ich mir erkämpft


Und schreite, wann du, Sonne, dich entfernst,

Getrost durch diesen tiefen Abendernst.


In den gestrengen Zügen der Natur

Empfind ich die verwandte Seele nur.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 427-428.
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Huttens letzte Tage, Engelberg