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Mythos

[430] »Herr Ritter, habt Ihr, sagt mir's im Vertraun,

Jüngst eines Mönchleins Ohren abgehaun?


Ist's wahr, wo blieb der feine Humanist

Bei der Zyklopentat? Wo blieb der Christ?


Ihr seid ein prächt'ger Hausgeselle zwar,

Doch habt Ihr ein gefährlich Augenpaar:


Im Zwiegespräche leuchtet's heiter mild,

Derweil Ihr sinnt und brütet, droht es wild.


Sagt, tapfrer Ritter, wispert mir ins Ohr,

Ob jenes arme Pfäfflein seins verlor?«


– Pfarrer, Kritik! Bin ich ein Polyphem?

Nie hab ein Glied gekappt ich irgendwem.


Erwirbt ein Erdensohn sich Lob und Preis,

Gleich bildet sich um ihn ein Sagenkreis.


Dem Pfaffen, merkt, hab ich das Haar gerupft,

Den fetten Ohrenlappen auch gezupft –


Das, Pfarrer, ist geschichtlich aufgehellt,

Das andre spielt in schwanker Fabelwelt.[430]

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 430-431.
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