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Gärungen – Klärungen

[41] Vom Alpensee wehte kühl der Odem des keimenden Morgens, und voll Unruhe irrten die Nebel umher auf den nassen, schlummernden Wiesen.

Kein Auge hatte Veronika, die Gezähmte, geschlossen die ganze Nacht und sich schlaflos hin- und hergewälzt auf dem häuslichen Misthaufen. »Der Holzlapp' von Miesbach« von Xaver Hinterstoißer hatten sie drin im Saale gespielt gestern abend, und kein Auge war trocken geblieben, als so der »Pfarrer« dreiviertelstundenlang laut mit sich selber gekämpft.

»Das nenn' ich mir halt wahre Heimatkunst,« hatte der fremde Städter mit der krummen Hahnenfeder auf dem Hute, als er – aus dem Gasthause getreten – sich für einen Augenblick an den Misthaufen stellte, laut zu seinem Nebenmann gesagt und dabei voll Inbrunst vom Monde aufgeblickt.[41] »Alles so grundwahr aus dem Volke herausgewachsen. O, Erdgeruch, du mein Erdgeruch. Und haben Sie auch beobachtet, Herr Meier, was für ergreifende Töne den Oberniedertupferseppl als ›Großknecht‹ zur Verfügung standen! Es ist doch kaum zu glauben! Dieser schlichte, biedere Bauernsohn!«

»Ja, und gar der prächtige Schnackl-Franz. Dieses urwüchsige Dudludludl, so naiv und doch so innig – gar nicht mehr los werde ich die Weise,« hatte der andere freudig zugestimmt. Und dann waren beide wieder hineingegangen.

Dem Schwein Veronika auf seinem erhöhten Lager aber war kein Wort entgangen.

Stunde um Stunde verrann, und kein Schlaf kam mehr in seine Augen.

Der Mond war quer über den Himmel geschlichen; vorsichtig hatte der Misthaufen zuerst auf der linken Seite einen blauschwarzen Schatten herausgebleckt, ihn allmählich wieder eingezogen, dann rechts herausgebleckt – weiter, immer weiter, bis er endlich ganz und gar die Herrschaft über ihn verloren. Und nichts von alldem hatte das Schwein beachtet, wie doch sonst in hellen Nächten. So sehr jagten sich seine Gedanken!

Schon quoll der erregende Hauch des Morgengrauens aus der Erde, brutwarm stank es aus den Bauernhäusern, und immer noch grübelte Veronika.[42] Grübelte und grübelte. Und Erinnerungen aus der Jugendzeit, an Alma, die liebliche Stiefschwester, und die andern – – alle – – alle, wurden wieder neu. Gott, wie war es doch damals nur gewesen?! Richtig, ja richtig, – – – der schöne Mann mit der Ballonmütze aus schwarzer Seide und dem blanken Messer als Hüftzier war eines Tages gekommen und hatte Alma genommen. Und der Papa hatte gesagt: »Es ist ein Theaterdirektor, er hat Alma entdeckt.«

Und die Mama hatte gesagt: »Wegen ihrer rosa Hautfarbe kam er, – sie ist nicht wie ihr; – ach, und so verführerisch konnte halt das Mädchen mit dem Busen wogen. Sie wird bestimmt Koloratursängerin.«

Eine ganze Woche hatten sie dann allesamt auf dem Misthaufen gelegen und rastlos geübt, verführerisch mit dem Busen zu wogen.

Wohl war von Zeit zu Zeit, wenn die Kirchweih nahte, der Theaterdirektor mit der Mütze immer wieder gekommen und hatte zur Feier des frommen Festes ein Familienmitglied an den Ohren weggeführt, aber von Alma sprach er nie.

»Soll ich denn auch auf ihn warten?« überlegte Veronika. »Soll ich nicht?«

Unentschlossen zählte sie an ihren zwölf Knöpfen ab: soll ich, soll ich nicht – –[43]

Soll ich nicht! – kam heraus. Da erhob sich Veronika, schüttelte den Tau von den Borsten und blickte in den Himmel. Es gähnte der Morgen, rosenrot barst der junge Tag. Rosenrot. – – Wie Schminke.

Da frohlockte das Schwein ob des günstigen Zeichens. Und suchend blickte es umher.

»Ja, was wär' denn jetzt gar dös?! Ein grünwollenes Futteral liegt da?!«

Schnell biß er vier Stücke davon ab, zog sie über die Waden und setzte den Lampenschirm aufs Haupt, den grasgrünen, den die Wirtin neulich auf den Misthaufen geworfen hatte.

So, und jetzt noch eine Träne: »Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften, – – – ihr Wiesen, die ich wässerte – –,« und im Trab zum Herrn Uhrmacher ging's, die zwölf Knöpfe versilbern lassen. Der machte das recht gern, wenn auch nicht billig, und sagte dabei ein ums anderemal: »A Pferdsketten mit a paar Pfund Eberzähnt, dös fehlet halt no, und auf 'm Huat den Pinsel fein nöt vergessen!«

Denn er durchschaute des Schweines Pläne.

Dann zottelte Veronika von dannen, nach Norden, der Hauptstadt zu.

Die Vöglein pfiffen, es glitzerten die Gräser, und hie und da stank ein Bauernlackel vorüber.[44]

Unendlich rollte sich die Landschaft auf. Dichte Wolken wirbelte Veronika aus dem weißen verdursteten Boden, daß die engbrüstigen Pappeln mit ihren staubigen Blättern so husten mußten. Schon war die Sonne rot wie ein Krebs, und immer noch, in weiter, weiter Ferne, lag der Dunst der Stadt.

Doch emsig trottete Veronika dahin; ihre versilberten Knöpfe klirrten.

Eine vornehme Equipage rollte vorbei; es saß ein feiner Herr darin mit seiner Dame, und als er das Schwein erblickte in Landestracht, da ging ihm das Herz auf. »Grüß' Gott,« rief er leutselig, dann schloß er die Augen und gellte mit viereckigem Mund jjjjiiijach–hu–hu, so laut er konnte, daß die Pferde erschraken und einen kleinen Hopser machten.

Und zu seiner Dame gebeugt, sprach er bewegt von den Fährnissen der Berge, von dem tosenden Wildbach und – piff – paff – der flüchtigen Gemse. »Und riechst du es auch, Cläre? Das ist Scholle. Ackerduft! Und nicht mal gedankt hat das Deandl auf meinen Gruß! Ja, so sind sie alle, diese stolzen unverdorbenen Naturkinder! Treu wie Gold.« – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Quelle:
Gustav Meyrink: Gesammelte Werke, Band 4, Teil 1, München 1913, S. 41-45.
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