I.

[191] Das gespenstische Dämmerlicht des Frühmorgens tastete sich bereits durch die staubigen Straßen und hauchte trübschimmernde Nebel an die Häusermauern. Vier Uhr früh!

Und immer noch war Hlavata Ohrringle wach und ging ruhelos im Zimmer auf und ab.

Jahrzehnte ein Fläschchen, gefüllt mit einer wasserhellen Flüssigkeit, zu besitzen, von der man bestimmt weiß, daß sie irgendwelche geheimnisvollen Eigenschaften hat, – zu gewissen Zeiten eingenommen, vielleicht sogar die höchsten magischen Fähigkeiten verleihen kann, ohne daß man imstande wäre, hinter das Geheimnis zu kommen, ist betrübend und qualvoll. Aber plötzlich, wie mit einem Ruck – den Vorhang gelüftet zu sehen, regt auf und zerreißt den Schlaf.

Hlavata Ohrringle hatte oft des Abends das Fläschchen hervorgeholt, geschüttelt, gegen das Licht gehalten und an seinem Inhalt gerochen – hatte immer und immer wieder die alten Folianten aufgeschlagen, die nach den testamentarischen Angaben seines Urgroßvaters Aufschlüsse geben sollten – und[191] war jedesmal gereizt zu Bette gegangen, ohne etwas herausgefunden zu haben. Nur eins war seltsam: immer in solchen Nächten besuchte ihn derselbe Traum, eine violette gebirgige Landschaft, mitten darin ein asiatisches Kloster mit einem goldenen Dach und darauf in starrer Unbeweglichkeit eine Leiche stehend, die ein Buch in der Hand hielt. Wenn sich dann langsam die Deckel öffneten, wurde in chaldäischen Lettern der Satz sichtbar: »Bleib' auf deinem Weg und wanke nicht.« – –

Und heute endlich, endlich nach so langem fruchtlosen Grübeln hatte Hlavata Ohrringle gefunden, und die verbergende Hülle des Geheimnisses war vor den Augen seiner Seele geborsten – so wie die Schale einer Nuß zerspringt, wenn Hitze auf sie wirkt. –

Eine Stelle in einem der Traktate, die er bisher übersehen, weil sie gleich anfangs in der Vorrede stand, gab genauen Aufschluß: die Flüssigkeit war ein sogenanntes alchimistisches Partikular.

Also doch: – ein alchimistisches Partikular!

Aber die Eigenschaften der Flüssigkeit waren kurios und anscheinend so wertlos nach modernen Begriffen! Ein Tropfen zwischen zwei Metallspitzen gebracht, nehme nach wenigen Minuten eine mathematisch absolut genaue Kugelform an. –[192] Interessant – sehr interessant, daß es also einen Stoff gab, aus dem sich in praxi eine solch absolut genaue Form bilden ließ; – aber was weiter, das konnte doch unmöglich alles sein?

Es war auch nicht alles, und Hlavata Ohrringle, der ein Bücherwurm von Gottes Gnaden war, fand gar bald in einem zweiten Folianten den wundersamen Wert beschrieben. Wäre es möglich, hieß es dort ungefähr – eine in geometrischem Sinne korrekte Kugelrundung herzustellen – so würden sich Dinge darin sehen lassen, die jeden in höchstes Erstaunen versetzen müßten. Das ganze astrale Weltall – jenes geistige Weltall, das dem unsrigen zugrunde liegt, wie der Handlung die Absicht, wie der Tat der Entschluß – könne sogar darin wahrgenommen werden, wenn auch zuweilen nur in symbolischer Form. Ein Kugelauge schaue eben nach allen erdenklichen Seiten hin bis in die entferntesten Tiefen des Weltalls und ordne nach uns unerkennbaren Gesetzen der Oberflächenspannung alle Spiegelbilder über- und nebeneinander.

Hlavata Ohrringle hatte alles vorbereitet, die Metallnadeln in einen Halter geschraubt, dazwischen den Tropfen mit unsäglicher Mühe angebracht und konnte jetzt den Tagesanbruch kaum erwarten, um im Morgenlichte das Experiment zu beginnen. Ungeduldig schritt er auf und nieder oder warf sich[193] in den Lehnstuhl, dann sah er wieder auf die Uhr: Erst viertel Fünf, Himmelsakra!

Er blätterte im Kalender, wenn eigentlich die Sonne aufgehe. Gerade heute ein Marientag – und Marientage sind so bedeutsam.

Endlich schien es ihm hell genug; er nahm sein Vergrößerungsglas und betrachtete den Tropfen, der glitzernd zwischen den silbernen Nadelspitzen hing. –

Anfangs sah er nur die Spiegelbilder der Dinge, die sein Zimmer füllten, den Schreibtisch mit der gesternten Decke und den umhergestreuten Büchern, die weiße Kugel der Lampe und am Fensterriegel den alten Talar – auch einen kleinen Fleck rötlichen Himmels, wie er durch die Scheiben schimmerte. Aber bald überzog ein dunkles Grün die Oberfläche des Tropfens und verschlang alle diese Reflexe. – Gegenden bildeten sich aus Basaltfelsten, gähnenden Grotten und Höhlen – phantastisch langgezogenes Gestrüpp lauerte wie zum Schlag ausholend, und fremdartiges Baumkraut breitete durchsichtig glasgrüne Segelblätter aus.

Selbstleuchtend die ganze Landschaft – eine Szene der Tiefsee.

Ein länglich weißer Fleck trat hervor und wurde immer deutlicher und plastischer: eine Wasserleiche, ein nacktes Weib mit dem Kopfe nach abwärts, die[194] Füße an adernartiges Geflecht gefesselt, hing in dem grünen Wasser.

Plötzlich löste sich ein farbloser Klumpen mit gestielten Augen und scheußlichem fadenumwachsenen Maule aus den Felsenschatten und schoß auf das Weib zu. Blitzartig folgte ihm ein zweiter.

So rasch hatte das erste Ungeheuer der Leiche den Leib aufgerissen und war selbst von dem anderen gespießt worden, daß Hlavata Ohrringle gar nicht mit den Augen folgen konnte. Vor Erregung stieß er einen Seufzer aus und beugte sich noch tiefer über seine Lupe. Doch sein Atem hatte das Bild bereits getrübt und alsbald zerrann es gänzlich. Keine Mühe, kein geduldiges Warten nützte, die Szene kehrte nicht zurück; und der Tropfen spiegelte nur die blendende Sonne wieder, die sich über den Dunst der rauchigen Häusergiebel hob.

Quelle:
Gustav Meyrink: Gesammelte Werke, Band 4, Teil 2, München 1913, S. 191-195.
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