Säkulargesang beim Anfang des neunzehnten Jahrhunderts

[323] Wirf, schrecklichstes von allen, die noch waren,

Wirf, blutbeflecktestes von allen Jahren,

Wirf, o Jahrhundert, mir noch einen Blick,

Eh' du entfleuchst, in unsre Welt zurück.


Hör einmal noch der Menschheit banges Stöhnen!

Blick nieder auf die Millionen Thränen,

Die Deutschlands Flur, von Leichnamen gedüngt,

Und Rhein und Donau blutgerötet trinkt.


Hör, an der Hütt' und des Palastes Trümmern

Hinauf zu Gott die Halberstarrten wimmern!

Vernimm mit Schaudern, wie auf banger Flucht

Der eine betet, dort der andre flucht!


Und nun erheb, hinauf vom Kriegsgewimmel,

Dich wieder zu des Allerbarmers Himmel,

Der, uns zu zücht'gen, dich herabgeschickt!

Auf, und erzähl ihm, was dein Aug' erblickt![323]


Sag ihm, daß unter all den Millionen

Von Bösen auch noch gute Menschen wohnen,

Die, schlecht und recht, das Eine sich erflehn,

Ringsum beglückt die ganze Welt zu sehn.


Leg, an der Seite deiner ältern Brüder,

Vor seinem Thron die tausend Seufzer nieder,

Die, Jahre schon vom Kriegessturm verweht,

Umsonst den Frieden uns herabgefleht.


Dann senket sich im hellsten Morgenglanze,

Die Schläf' umgrünt vom frischen Myrtenkranze,

Den Palmzweig in der hochgehobnen Hand,

Der Friedensengel aufs verheerte Land.


Die Menschheit jauchzt mit lauten Herzensschlägen

Dem Kommenden ihr Jubellied entgegen.

Der Krieg durchbohrt wutknirschend sich die Brust,

Und alles schwimmt in neuer Lebenslust.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.].
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