Der zeitunglesende Faun

[80] Auf einem Eichenstrunk, die Ziegenbeine

behaglich überschlagen, sitzt ein Faun

und liest in einem alten Zeitungsblatt,

das er im Walde irgendwo gefunden.

Ein Feuilleton »Die Presse, ihre Macht

und heilige Mission« beschäftigt ihn.


»Die Presse« liest er »ist das Fundament

der heutigen Kultur, der stärkste Hebel

geistigen Fortschritts, höherer Gesittung.

Sie ist die Lehrerin, Erzieherin

und Richterin der Völker! Nichts entzieht sich

der Allmacht ihrer Kritiker: Sie prüft,

beleuchtet alles, was du denkst und tust,

sie ist die vornehmste, stets wachsame

und drum so wichtige Vertreterin

der öffentlichen Meinung. Papst und Kaiser

umbuhlen sie. Und bis herab zum Bettler

sieht alle Stände, alle Klassen man

ihr unterworfen und gezwungen, sie

zu respektieren. Und noch mehr, noch mehr!

Sie ist das unentbehrlich-wichtigste

Verkehrs- und Bildungsmittel unsrer Zeit:

Bezieht ein großer Teil der Menschheit doch

heut sein gesamtes Wissen aus der Zeitung!

Denn mehr und mehr verdrängt die Tagespresse[81]

der langen Bücher zweifelhaften Wert:

Der Menschen Kraft, Bedürfnis nehmen heut

die Zeitungen und Zeitschriften in Anspruch,

sodaß der Sammlung fordernden Lektüre

kein Raum mehr bleibt. Die für den Tag geschriebnen

und mit dem Tag vergehnden Zeitungen,

sie wirken eben rascher als die dicken,

gedankenschweren Bücher, ja noch mehr!

In ihren Händen liegt das Schicksal aller

schriftstellerisch- und dichterischen Werke!«


Mit breitem Grinsen liest es der Panisk,

und seine Flöte an die Lippen langend,

erhebt er sich und trabt vergnügt waldein.

Ein Wiesel raschelt unterm Stamm hervor;

die hohen Eichen flüstern hell im Wind;

und das Papierchen tanzt in eine Pfütze.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 2, Basel 1971–1973, S. 80-82.
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