Der hohe Beruf eines Gastwirthes.

[82] Während diesen Gesprächen waren sie wieder bis an den Gasthof zum Paradiese gekommen – der Emeritus nahm Abschied – und ging zu Hause – er wohnte aber nicht weit um die Ecke nach der Kirche zu, in einem alten Schulhause, wo ein kleines Fenster in seiner Kammer auf den Kirchhof zu ging; aus diesem Fenster hatte er den Abend vorher, die dramatische Uebung mit angesehen, und drauf hatte er Hartknopfen mit seinem Vetter Knapp kommen sehen, und war zu ihnen heruntergeeilt.

Man wird sich wundern, daß Hartknopf nicht gleich bei seiner Ankunft nach dem Emeritus fragte – aber er war nicht von vielen Fragen – und der Emeritus war ihm in seinem Herzen sicher genug, er mochte nun leben oder todt seyn.

Seinen Vetter Knapp aber fragte er jetzt, wie er denn gelebt hätte, und ob er auch den[83] hohen Beruf eines Gastwirths nach allen seinen Kräften zu erfüllen gesucht hätte – Knapp meinte, er hätte noch weit mehr thun können, er wollte aber das Versäumte noch so viel wie möglich wieder nachzuhohlen suchen. – Weiter sagte er nichts. –

Da nun des guten Knapps Bescheidenheit ihn so stumm machte, so muß ich wohl das Wort für ihn nehmen, und etwas weniges von seiner Lebensweise beibringen, das ihn dem Leser bemerkenswerther macht, als er ihm bisher vielleicht geschienen hat.

Ich habe schon bemerkt, daß im Gasthofe zum Paradiese die Zöllner und Sünder, die Niedrigsten aus dem Volke herbergten – wer zu Roß oder zu Wagen kam, der kehrte schwerlich im Paradiese ein, wenn nicht die drei Kronen oder der goldne Hirsch schon besetzt waren – aber der ermüdete Wandrer, fand hier eine sichre und wohlfeile Herberge – Der Handwerksbursch der mit seinem Felleisen belastet, oft mit leerem Beutel und leerem Magen, bloß wandert um zu wandern, und den strengen Zunftgesetzen ein Gnüge zu leisten, die ihn aus seiner süßen Heimath,[84] von seiner verlobten Braut, und von den Gespielen seiner Jugend auf eine Anzahl Jahre verbannen – damit er einst bei seiner Zurückkunst von der großen Glocke in Erfurt, von dem Münster in Strasburg, und dem großen Fasse zu Heidelberg zu erzählen wisse. –

Diese, und höchstens etwa einmal ein Fuhrmann, oder irgend ein in Fortunens Ungnade gefallner Erdensohn, den vielleicht in bessern Tagen selbst der goldne Hirsch und die drei Kronen eine zu schlechte Herberge gewesen wären, kehrten itzt hier im Paradiese ein, und nahmen willig mit einer Streue vorlieb, die ihnen der Gastwirth Knapp, so gut und bequem, wie irgend einer, machen ließ, und ihnen, wenn der Schläfer nicht zu viele waren, gern noch ein Kopfküssen dazu gab.

In welchem Lichte aber wird der Gastwirth Knapp erscheinen, wenn ich sage, daß von allen denen, die je bei ihm herbergten, keiner war, der nicht besser wieder aus dem Paradiese ging, als er hereingekommen war – Da war kein Bettler, kein Zigeuner, den Knapp nicht mit liebevollen Augen sahe; keiner, den er als einen wildfremden[85] Menschen nicht seiner Aufmerksamkeit werth geachtet hätte. –

Knapp hätte nicht dürfen ein Gastwirth werden, wenn er nicht gewollt hätte; es standen ihm in seiner Jugend tausend Wege offen – auch fehlte es ihm nicht an Kopf – er hatte die lateinische Schule besucht – der Emeritus, der jetzt Gevatter zu seinem Sohne war, war auch sein Lehrer gewesen – und mit dem hatte er überlegt, was er für eine Lebensart wählen wollte –

Und sein Hang floß über von Mitleid gegen den armen verachteten Wandrer, gegen den herumziehenden Erdensohn, um den sich niemand bekümmert – dem niemand mit Rath und Trost zu Hülfe eilet; gegen den Bettler am Wege, dem der mitleidige Vorübergehende eine Gabe in den Hut wirst, aber ihn seines Zuspruchs nicht würdigt, oder nicht Zeit hat, sich aufzuhalten, weil seine Geschäfte ihn zu etwas andern rufen, als der im Elend versunknen Menschheit wieder aufzuhelfen. –

Mögen andre für die Glücklichen sorgen, sagte Knapp zu sich selber, daß sie noch glücklicher[86] werden, durch schöne Gemählde, schöne Statüen, und schöne Gedichte – wenn ich nur etwas dazu beitragen kann, daß die Unglücklichen nach ihrer Art ein wenig glücklicher werden, durch Gesundheit, Zufriedenheit, und Arbeit – Das große Gebäude der menschlichen Glückseligkeit müssen doch auch einige von unten angreifen, wenn es nicht einmal plötzlich zertrümmern soll. –

Gesundheit, Arbeit, und Zufriedenheit sind doch die große feste Basis, worauf alle die leichtern Zierrathen von schönen Gemählden, Statüen, und Gedichten ruhen müssen, wenn wir uns ihrer mit gutem Gewissen freuen sollen –

So dachte Knapp oft in einsamen Stunden, und so hatte ihn der Emeritus denken lehren. – Nun faßte er bald seinen Entschluß, kaufte sich den Gasthof zum Paradiese, dessen voriger Eigenthümer gestorben war, und mit dem sich keiner gern wieder befassen wollte, weil er gemeiniglich die Bettelherberge genannt wurde – und hier stellte er sich nun freudig an seinen Posten, fing das große Geschäft seines irrdischen Lebens an, und wartete den täglichen Zufluß der verworfensten[87] und verachtetesten Menschenklasse, mit der Treue und Gewissenhaftigkeit eines vom Himmel bestellten Wächters der menschlichen Glückseligkeit ab –

Wo er noch einen Funken nicht ganz erstorbenen Menschengefühls entdeckte, den suchte er wieder aufzublasen – und durch Uebung brachte er es in dieser Kunst gewiß sehr weit; ob er gleich noch kein Adept war, wie Hartknopf und der Emeritus, und die andere Hälfte zu dem großen Worte nicht deutlich hatte buchstabieren können – und obgleich seine Rede ja! ja! nein! nein! war, so bald er nicht mehr Worte nöthig fand – – das Wort war ihm so heilig, wie es Hartknopfen nur immer seyn konnte, ob er es gleich nicht, als die vierte Person in der Gottheit verehrte – darum war er so sparsam mit seinen Worten, um sich gleichsam alle Kraft und allen Nachdruck der Rede zu dem Augenblicke aufzusparen, wo er in der Seele eines Menschen gleichsam eine neue Schöpfung bewirken, und das Licht von der Finsterniß scheiden wollte. –

Wie es bei einem Meisterwerke, wenn es vollkommen seyn soll, fast mehr darauf ankömmt,[88] daß der Künstler die wenigen Flecken, die etwa noch darinn sind, auszutilgen wisse, als daß er noch immer mehr neue Schönheiten hinzufügt, wodurch vielleicht das Ganze mehr verliert, als gewinnt, so scheint derjenige auch den sichersten Weg gewählt zu haben, dessen Bemühung in seinem Leben dahin geht, in dem großen Meisterstücke des größten Künstlers, mehr dem entgegen zu arbeiten, wodurch das Ganze entstellt zu werden scheinet, als neue künstliche Verzierungen zu demselben hinzuzufügen. – Denn was ist Pracht und Zierrath gegen Reinlichkeit? – heißt doch Mundus nicht umsonst die Welt. –


Wer auf die Weise bloß negativ zu Werke gehet, wird freilich nicht den Ruhm eines Weltreformators davon tragen – aber ihn wird das selige Gefühl beglücken, daß er mit seinen Bestrebungen in den Plan der ewigwürkenden Liebe harmonisch einstimmt – Er fühlt es, daß jeder Stein des Anstoßes, den er weggeräumt hat, Gewinn für das Ganze ist – und weiß es, daß ein einziger ausgetilgter Fleck aus diesem großen Gemählde es der Vollkommenheit näher bringt,[89] als der zierlichste Rahmen, worinnen es eingefaßt wird.

O ihr Menschenfreunde, die ihr den Willen und die Kraft habt, ausser euch zu wirken, stellt euch doch wie Knapp, und Hartknopf, und der Emeritus, und wie der gute Pestalozze in der Schweitz, unten an, wenn ihr wirken wollt – das sinkende Gebäude braucht Stützen, und nicht Statüen. – Wollt ihr anders wirken, so ist es um den wahren Frieden eurer Seele, und den schönen Takt eures Lebens, wodurch ihr allein in das große Ganze eingreift – es ist um euren ächten innern Werth geschehen! –

Knapp hatte sich in dieser Welt unten an gestellt, und es wird ihm in jener Welt gewiß nicht gereuen.

Er hat hier unten im Paradiese manchen Hungrigen umsonst gespeiset, manchen Durstigen umsonst getränket, und manchen Bekümmerten getröstet und aufgerichtet; dafür wird er einst in jenem Paradiese dort oben wieder getröstet werden. –

Durch die tägliche Uebung hatte sich Knapp eine solche Fertigkeit in der Beurtheilung der[90] Menschen erworben, daß er immer nach wenigen Minuten mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit schliessen konnte, ob an einem Menschen noch was zu thun sey oder nicht – aber wie ungern, gab er dennoch gänzlich alle Hoffnung zur Beßrung auf – mußte er sie aufgeben, so machte ihn das auf viele Tage traurig und niedergeschlagen; er schob die Schuld immer mehr auf den Arzt, als auf die Krankheit. – Er verzweifelte nicht daran, selbst für den Seelenschaden, der am unheilbarsten scheint, noch ein bewährtes Heilungsmittel zu finden. –

Darauf ging sein Tichten und Trachten sein ganzes Leben lang – denn er fühlte es nur allzuwohl, daß nicht Hunger und Durst, nicht Lahmheit oder Blindheit, die wahren Uebel des Lebens ausmachen; sondern daß eingewurzelter Neid, eingewurzelter Eigennutz, die eigentlichen Flecken sind, welche diese schöne Schöpfung Gottes entstellten. –

Diese Flecken, wo er nur konnte, auszutilgen, daß war ihm mehr werth, als große Schätze zu gewinnen. – Und unter lausenden ist es ihm bei zwei Menschen gelungen, wovon der eine[91] taub und stumm, und der andre ein verarmter holländischer Seelenverkäufer war, der in seinem Alter in Deutschland sein Brodt betteln mußte, und nun auch nach Gellenhausen kam, wo er im Paradiese einkehrte, und der Gastwirth Knapp seine Seele vom Verderben rettete.

An diesen beiden Menschen machte aber auch Knapp ein wahres Meisterstück – denn er hielt selbst ihre Krankheit für unheilbar – den Tauben und Stummen, weil er nicht durch die Sprache auf ihn wirken konnte, und den ehemaligen Seelenverkäufer, weil er schon ein Greiß war, und in seinem Alter die schwere Hand des Schicksals, die ihn darnieder drückte, sein hartes Herz nicht hatte erweichen können.

Knapps unaufhörlichen Bemühungen gelang es, den Seelenverkäufer so weit zu bringen, daß er sich nicht freute, da dem Nachbar ein Haus abbrannte; über einen Dachdecker, der den Tag vor seiner Hochzeit vom Dache herunter stürzte, und sich den Kopf zerschmetterte, sogar eine mitleidige Thräne weinte; und anfing, ein Vergnügen daran zu finden, mit Knapps einäugigen[92] und lahmen Pudel zuweilen sein Brodt zu theilen.

Der Taube und Stumme war sehr verhärtet; ohngeachtet nie in sein Ohr die Sprache des Verführers ein dringen konnte, so hatte doch Neid und Eigennutz so tiefe Wurzel bei ihm geschlagen, daß er der Blume den Sonnenschein, und der Heerde die sich unter einen Baum gelagert hatte, den Schatten mißgönnete – Alle seine Mienen und Bewegungen waren widerwärtig und liefen auf Zerstörung und Verderben hinaus. –

Es war rührend anzusehen, wie Knapp sich oft Stunden lang mit einer eiserner Geduld damit beschäftigen konnte, diesem Taubstummen durch die Zeichensprache nur erst einigen schwachen Begriff von Sanftmuth und Menschenliebe beizubringen, die sein Herz bis itzt noch gar nicht gekannt hatte.

Dieß waren denn die beiden unheilbarschelenden, an deren Herzen Knapp gleichsam eine Art von Wunderkur verrichtet hatte – – Die Art nun, wie er mit ihnen zu Werke gegangen ist, verdiente freilich wohl allgemein bekannt zu werden – allein die Beschreibung davon wütde[93] ein eignes Buch erfordern, und doch vielleicht unvollkommen und unverständlich bleiben – denn wer kann Knapps Mienen, Knapps Auge, und jede seiner Bewegungen beschreiben, und den sanften liebevollen Händedruck, womit er seine Reden begleitete? –

Wenn in einer bessern Welt dereinst des Taubstummen Zunge gelößt seyn wird, mit welchem lauten Jubel wird er da noch seinem Erretter danken; und der Seelenverkäufer, dessen Seele durch Knapp vom Verderben gerettet wurde, wo wird er Worte hernehmen, um seinen Dank zu stammeln!

Und alle die getrösteten Betrübten, die traurig und niedergeschlagen in dem Gasthofe zum Paradiese einkehrten, und vergnügt und fröhlich wieder von dannen gingen; wenn sie einst auftreten und sagen werden: dieser hat unsre Thränen auf Erden abgetrocknet; – mit welchem gekrönten Haupte würde dann der Gastwirth Knapp wohl tauschen?

Wenn die gekrönten Häupter nun da stehen werden, beschämt und niedergeschlagen, und Millionen um sie her, die auf Erden von ihnen[94] mit eisernem Scepter beherrscht, und um alle die unschuldigen natürlichen Freuden des Lebens, um die Rechte der Menschheit gebracht; und wie eine in ihren einzelnen Theilen unbedeutende Masse, in ein Ganzes umgeformt wurden, wie etwa Holz und Steine, behauen und beschnitten werden, um zusammen ein Gebäude auszumachen, wodurch jedes einzelne erst brauchbar wird.

Weh euch dann, die ihr den Menschen ihren einzelnen ächten Werth raubtet, um Lücken mit ihnen auszustopfen; wenn ihr es nöthig fandet, Moräste mit ihnen auszudämmen, damit dem stampfenden Roß ein Weg zum Feinde gebahnet sey – die ihr um einer Chimäre, um eines allgemeinen abstrakten Begriffs willen, den ihr Staatskörper nennt, den Menschen nicht mehr um sein selbst, sondern bloß um dieser Chimäre, um dieses abstrakten Begriffs willen, wollt existiren lassen!

Also damit es einen Staat gebe, müssen so viele tausende auf alle Ansprüche Verzicht thun, wozu sie ihre angestammte Menschenwürde berechtiget?[95]

Sie müssen sich für bloß nutzbare Wesen halten, wie das Korn, das gemähet, und der Baum, der gefällt wird, damit der eine dem Menschen Wärme und Obdach, und das andre ihm Nahrung gebe.

Tausende müssen sich von Jugend auf gewöhnen, zu denken, daß sie nur um andrer willen, keiner aber um ihrentwillen da ist, und daß sie keinen eignen für sich bestehenden Werth haben. O wenn einst alle dieser willkürlich angenommener Unterschied verschwunden ist, und nun wieder jene allgemeine natürliche Gleichheit herrscht, wodurch ein jeder in seinem wahren Lichte erscheint, nachdem aller Flitterstaat von Titeln und Ordensbändern hinweggenommen ist; wie wird alsdann der Gastwirth Knapp, unter vielen tausenden hervorleuchten!

Wer wird dann wohl zweifeln, daß dieser getreue Knecht über vieles wird gesetzt werden, nachdem er hier über weniges getreu gewesen ist. –

Dazu war Knapp ein Pädagoge, wie es wohl weniges auf Erden giebt – ohne den Emil und Basedows Elementarwerk gelesen zu haben,[96] war er auf gewisse Geheimnisse in der Erziehungskunst gefallen, welche dicke Bünde von Erziehungstheorien unnöthig machen würden, wenn sie bekannt wären – aber sie lassen sich eben so wenig vollkommen beschreiben, als seine Methode, einen eingewurzelten Schaden der Seele zu heilen – Knapps zehnjähriger Sohn aber wird einmal aufstehen, und wirken, und alle Philantropine beschämen, wenn er anfangen wird, das im Großen auszuüben, was sein Vater im Kleinen that – Knapps Sohn wird einst seines Vaters Andenken durch seine Thaten auf die Nachwelt fortpflanzen, wenn es schon längst in Gellenhausen verloschen ist.

Quelle:
Karl Philipp Moritz: Andreas Hartkopf. Eine Allegorie, Berlin 1786, S. 82-97.
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