Hartknopfs erstes Erwachen in seinem Geburtsorte.

[50] Als Hartknopf am andern Morgen die Augen aufschlug, stand ein kleines Kammerfenster offen, und er konnte durch dasselbe in der Ferne einen Hügel sehen, worauf das Gellenhausische Hochgericht stand. –

Von diesem Hügel hatte man in der ganzen Gegend umher die reizendste Aussicht – gleichsam als wenn man dem Verbrecher, der hier das Ende seiner Tage finden sollte, noch zur doppelten Strafe, vorher alle Herrlichkeit der Erde zeigen wollte, die er nun auf einmal mit gesundem Leibe verlassen mußte.

Auf diesem Hügel unter dem Galgen hatte Hartknopf oft gespielt, und mit den andern Knaben des Orts Ball geschlagen. – Von diesem Galgenhügel hatte er zuerst in Gottes schöne Welt geblickt, und seinen Vater oft gefragt, was[51] dieser offne Thorweg unter freiem Himmel bedeuten sollte, und wozu man die Lumpen und schwarzen Knochen darinn aufgehangen hätte? – Uebrigens diente ihm das Bild dieses Galgens in der Folge zum Kommentar über die Geschichte Simsons, und kam ihm vor die Seele, so oft er las, daß Simson ein Stadtthor ausgehoben, und auf einen Berg getragen habe.

Diese Eindrücke waren so fest bei ihm geworden, daß sich ihm, so oft er einen Galgen sahe, das Bild einer reizenden Gegend, und so oft er eine reizende Gegend sahe, das Bild eines Galgens unwillkührlich aufdrängte.

Itzt, da er nun denselben Galgen wiedersahe, an dessen Vorstellung sich alle die süßen Erinnerungen aus seiner Kindheit anknüpften, wurde er plötzlich mit einer unaussprechlichen Wehmuth erfüllt – was damals blühte, fing nun schon an zu welken – was damals welkte, war nicht mehr –

Er stand auf, schlug seinen messingnen Kamm in sein Haar, knüpfte seinen Rock von oben bis unten zu, sahe, ob sein Vetter noch schlief – und dann ließ er ihn ruhig schlafen, und wanderte[52] an seinem Stabe in der kühlen Morgenlust dem geliebten Hügel zu – und der alte einäugige Pudel begleitete ihn.

Es war noch früh am Tage – die Thüren waren alle verschlossen und Gellenhausen lag noch im tiefen Schlummer begraben – Da war ein Ziehbrunnen nicht weit von der ehemaligen Wohnung seiner Eltern. – Beim Anblick desselben war ihm sonderbar zu Muthe – Es war ihm plötzlich, als ob er einen Blick hinter den undurchdringlichen Vorhang gethan hätte, der irgend ein vergangnes Daseyn von seinem gegenwärtigen Daseyn trennte. – Er erinnerte sich an einen Zustand, der diesem ganz gleich war, und wußte doch diese Erinnerung nicht an Zeit und Ort zu knüpfen. –

Endlich fiel ihm ein, daß seine Mutter in seiner frühesten Kindheit, ihn, wenn er die Frage that, woher er gekommen sey, immer den Brunnen nicht weit vom Hause, als den Urquell seines Daseyns genannt habe. –

So oft er nun die Wörter Brunn oder Brunnquell hörte, entstand jene sonderbare Empfindung in seiner Seele, die man immer zu[53] haben pflegt, wenn man sich an etwas aus den Jahren seiner allerfrühesten Kindheit erinnert.

Nach Hartknopfs Meinung hatte es auch mit diesen Erinnerungen eine ganz eigne Bewandniß, und er hegte hierüber seine ganz besondern Gedanken –

»Die allerfrüheste Kindheit war ihm gleichsam der Lethefluß, aus welchem wir Vergessenheit aller unsrer vorigen Zustände trinken – Der Faden, der unser gegenwärtiges Daseyn an irgend ein vergangnes knüpfte, meinte er, sey hier so dünne gesponnen, daß ihn das Auge fast nicht mehr bemerken könnte; durch eine starke Hinsicht aber entdeckte man zuletzt doch etwas davon, so wie man oft am gestirnten Himmel, indem man seine Blicke fest drauf heftet, immer da einen Stern nach dem andern entdeckt, wo man vorher nur das Blaue sahe.« – Aber nun hat man einen Stern gesehen, und ist fest überzeugt, daß man ihn gesehen hat, und sucht allenthalben mit den Augen, ohne ihn wieder finden zu können. – So zählte Hartknopf viele Augenblicke in seinem Leben, wo ihm über gewisse Dinge ein plötzliches Licht in seiner Seele[54] aufging, aber es war auch eben so schnell wieder verschwunden – allein er wußte denn doch, daß er dieses Licht gehabt hatte – und wenn es gleich verschwand, so ließ es doch immer einen sanften Schimmer, ein in der Ferne dämmerndes Abendroth zurück, welches über jede Stunde seines Lebens einen stillen Reiz verbreitete, der ihn in süße Ahndungen und Träume einwiegte, das er sich denn gern gefallen ließ, weil er, wie er sagte, doch nichts damit zu versäumen hätte.

Aber das Wiedersehen dieses Ziehbrunnen ging ihm über alles – er betrachtete ihn lange und fest, ob es noch derselbe sey, und es war derselbe, wo er als ein Kind von zwei Jahren auf den niedrigen Rand geklettert war, und seine Mutter mit Geschrei und Schelten herzueilte, um ihn aus der Gefahr zu retten – dieser heilige Brunnen, den sich seine ersten Gedanken, als den Ursprung seines Daseyns gedacht hatten, in dessen Bilde gleichsam, alle die folgenden unzähligen Bilder seiner Seele zusammenströmten – Verkleinert schien sich zwar das Bild zu haben: der große Ziehbaum, der in der Luft schwebende[55] Eimer, hatten ihm Gegenstände geschienen, die beinahe bis an die Wolken reichten. – –

Mögen nun Hartknopfs Grillen hierüber gewesen seyn, welche sie wollen – ein Ziehbrunnen in einer Landschaft angebracht macht immer einen sonderbaren schwer zu erklärenden Effekt. Sey es nun das Einfache in dem Baue, oder sonst etwas, wodurch das Auge auf eine vorzügliche Art gerührt wird, so giebt es immer dem Ganzen das Ansehen des Ländlichen, des Alterthums, und der simplen Natur.

Eine Zugbrücke hat in der Wirkung für mich etwas ähnliches mit jenem Bilde. Ich denke mir dabei weite Reisen – – ferne Stadt – – Anfang, Ende – – Kurz es giebt einige körperliche Gegenstände, bei deren Anblick wir eine dunkle Uebersicht unsers ganzen Lebens, und vielleicht unsers ganzen Daseyns erhalten. – Diese Gegenstande mögen freilich immer bei einem jeden wieder andre seyn. – Was mir Hartknopf oft von Ziehbrunnen erzählt hat, das habe ich ihm wieder von der Zugbrücke gesagt, und unsre beiderseitigen Bemerkungen treffen in Ansehung[56] der Wirkung, die diese Gegenstände auf uns thaten, richtig zusammen.

Wenn wir oft so miteinander aus dem Innersten unsrer Seelen heraus sprachen, so war es eine Zeitlang, als ob wir unsre Ichheit miteinander vertauscht hätten, wir fühlten uns ineinander – die innerste Folge der Gedanken des einen war für den andern nicht mehr verschlossen. –

Auf diese Weise unterhielten wir uns ohne Sprache – Es herrschte zwischen uns ein bedeutendes geistvolles Stillschweigen, das der Engländer a Silent Conversation nennt – und welches man aus unsern faden Gesellschaftszirkeln immer mit Gewalt zu verscheuchen sucht – indem man dieses heilige Stillschweigen für eine Beleidigung des Wohlstandes hält. –

O mein Hartknopf, wenn ich einst aus diesem fieberhaften Traume des Lebens zu deiner Umarmung wieder erwache, durch was für unbekannte geheimnißvolle Wege werden dann unsre Gedanken zueinander gelangen, und sich miteinander unterreden? wenn das Gewölbe des Ohrs in Staub zerfallen, dieser feuchte Crystall des Auges vertrocknet, und diese Lippe verweßt ist? –[57] Wenn diese Brust nicht mehr athmet um mit dem sanften Hauche der Luft den Gedanken zu bekleiden, daß er sich mittheilt von außen, und in dem Geiste des Hörenden sich vervielfältigt? – Sollte dann eine ewige Kluft zwischen unsern Gedanken befestigt seyn? – sollte es unmöglich seyn, daß sie unmittelbar zu einander gelangen könnten – o mein Hartknopf, dann wärest du für mich verlohren, und für mich wäre eine ewige melancholische Einsamkeit – – aber wir haben uns einst ohne Sprache verstanden, da selbst unsre Augen verschlossen waren – – diese Minuten sollen mir heilig seyn, an der Stütze will ich mich festhalten, wenn manchmal in trüben Stunden meine Zuversicht und mein Glaube wankt! –

Hartknopf eilte nun weiter dem Thore zu, welches auf den Galgenberg führte – er sahe die breite Heerstraße vor sich, auf welcher er seine erste Wanderschaft, als Schmiedeknecht, angetreten hatte. – Hier fühlte er sich in seiner ganzen jugendlichen Stärke wieder – die weite Welt lag wieder vor ihm, wie damals – auch führte der Weg zum Galgen gerade nach Osten zu –[58] er war auch auf seiner ersten Wanderschaft schon einige Meilen nach Osten fortgerückt, hatte sich aber nachher wieder weit gegen Westen geschlagen – da ging ihm denn die Sonne seines Glücks unter, aber sie ging in seiner Seele desto herrlicher wieder auf. –

Das Erdreich fing sich an zu heben, der Horizont wurde immer weiter – Thürme von Dorfkirchen und einzelne Häuser, die Hartknopfen alle bekannt waren, stellten sich nacheinander seinem Auge wieder dar; die ganze Gegend schien ihn, wie ihren alten Freund und Bekannten wieder zu begrüßen – Gellenhausen lag tief im Thale, und er konnte bis in die Straßen hinabsehen –

Endlich wälzte sich die Sonne mit einem Feuerberge umgeben, am Himmel herauf, und röthete zuerst die Spitze des Galgens auf dem Hügel, und dann die Spitze des hohen Thurms in Gellenhausen – Endlich kam sie nun gerade hinter den Galgen zu stehen, der Hartknopfen wieder, so wie ehemals in seiner Kindheit, wie Simsons großes Thor vorkam, und eine Ehrenpforte[59] zu seyn schien, wodurch die majestätische Sonne ihren feierlichen Durchzug halten wollte.

Gerade unter dem Galgen war der weiteste Prospekt, und mit welchen Entzücken nun Hartknopf da stand, und die Wonne des Wiedersehens und der Wiedererinnerung genoß, vermag ich nicht zu beschreiben. – Er faltete seine Hände zu Gott empor, der ihn bis hieher geführt habe. –

So stand Hartknopf und betete, sein Gesicht gegen Osten gekehrt, zu dem Erhalter des Weltalls – in der stillen Einsamkeit, unter dem Hochgerichte bei Gellenhausen – Dieser Hügel war sein Altar, und die ganze Natur sein Tempel.

Auf den Altären in den Kirchen, die mit Menschenhänden gebauet sind, steht zum Schmuck ein Creutz; diesen großen Altar schmückte ein Galgen, an welchem vielleicht schon mancher, als ein Opfer der unerbittlichen strafenden Gerechtigkeit, unschuldig gelitten hatte. Und hätte auch nur ein einziger unschuldig daran gelitten, so war dieß Holz dadurch schon eingeweiht.

Ach, und die Schuldigen – die hier einen schmählichen und schändlichen Tod fanden – wer[60] hat das Labyrinth ihrer von Kindheit auf verflochtnen Schicksale durchschaut? welcher Richter in die innersten Falten ihres Herzens geblickt? wer den Uebergang von dem Gedanken zur That bemerkt? bemerkt, von welchen Gegenständen, während dieses Uebergangs, Lichtstrahlen ins Auge, Töne ins Ohr sich stahlen? ob der Himmel heiter oder trübe war, die Sonne sich hinter einer Wolke verbarg oder sanft dem noch nicht gewordnen Verbrecher ins Auge glänzte? – Wie manchen hat der Anblick der vollen Natur, der Anbruch des Morgens von einer That zurückgehalten, worüber seine Seele in nächtlicher Stille gebrütet hatte? – – Ja, wer hat sein eignes Herz durchschaut, um ein Richter seiner eignen Handlungen seyn zu können? – Verzeihe mir, Herr, die verborgnen Fehler! sagte Hartknopf, indem sahe er sich um, und hinter ihm stand sein aller Vektor Emeritus, der sich eben von einem Husten erhohlte, den ihm das Aufsteigen auf den Berg, und die kühle Morgenluft verursacht hatte. – Sie setzten sich nieder, und fingen, ihr Antlitz gegen Osten gekehrt, folgendes Gespräch an:

Quelle:
Karl Philipp Moritz: Andreas Hartkopf. Eine Allegorie, Berlin 1786, S. 50-61.
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