XXII. Brief.

Der Magister an Herrn Carl Grandison.

[146] Kargfeld, den 17. August.


Hochwohlgebohrner Herr Baronet,

Gnädiger Herr,


Wenn ich Eu. Excellenz ganz und gar unbekannt wäre, so würde es nöthig seyn, meine Unternehmung, Sie mit einem Schreiben zu belästigen zu rechtfertigen: so viel ich aber weiß, hat Ihnen der junge Baron v.S. von meinem Herrn Principal sowohl, als auch von meiner Person, bereits umständliche Nachricht ertheilet. Dieses, und der besondere Auftrag meines gnädigen Herrn, werden mich entschuldigen, daß ich es wage, die Feder anzusetzen, und Eu. Excellenz schriftlich von der außerordentlichen Hochachtung zu versichern, welche sich in den Herzen eines jeden von dem hochadlichen Hause,[147] se, gegen Sie und die Blume der Welt, Dero verehrungswürdigen Frau Gemahlin, veroffenbaret.


Es war vor kurzem Jedermann hier in der äußersten Bestürzung, wegen der betrübten Nachricht, welche wir neulich von dem jungen Herrn Baron aus Londen bekamen, daß Dero hochfreiherrliches Haus durch den tödlichen Hinritt, Dero Frau Großschwieger-Mutter, der alten Frau Shirley, in die tiefste Trauer wäre versetzet worden. Die fromme selige Dame verdiente es, daß unser ganzes Haus in Thränen schwamm, da diese schreckende Zeitung ankam. Der gnädige Herr trug mir sogleich auf, ein Condolenzschreiben, welches, wie ich hoffe, Eu. Excellenz durch den Herrn Baron, wird eingehändiget worden seyn, in seinem Namen aufzusetzen. Ungeachtet dieser hohe Todesfall, sich bereits vor drei Jahren ereignet hat; so glaubte doch weder mein Herr Patron noch ich, daß es zu späte wäre, desfalls eine Condolenz abzulegen. Wir wissen, daß, obgleich die äußerliche[148] Trauer lange aufgehöret hat; Eu. Excellenz und Dero Frau Gemahlin doch niemals aufhören werden, diese vortrefliche Matrone in ihrem Herzen zu betrauren. Mein Herr Principal, der sich nunmehro für einem von den Ihrigen ansiehet, hat es unmöglich von sich erhalten können, diesen Trauerfall mit Stilleschweigen zu übergehen; er hat sich vielmehr aus allen Kräften bemühet, seine innerliche Trauer durch die gewöhnlichen äußerlichen Zeichen zu erkennen zu geben. Allen Unterthanen des gnädigen Herrn wurde auf 14 Tage eine allgemeine Trauer angesaget. Und wenn im Schlosse selbsten eine Leiche gewesen wäre, so hätten nicht so viele Thränen können vergossen werden, als während diesen 14 Tagen, da von 11 bis zwölf Uhr Vormittage, und von 3 bis 4 Uhr Nachmittage das Trauergeläute gehöret wurde. Jedermann wünscht, daß das theure Haus der Grandisonen vor allen dergleichen Trauerfällen, in Zukunft lange bewahret, und bis in die spätesten Zeiten erhalten werde.[149]

Es ist mir bekannt, daß Eu. Excellenz ein großer Kenner der Werke der Gelehrsamkeie sind; ich weiß daß Dero gelehrtes Tagebuch mit den vortreflichsten Inscriptionibus, die man bei dem Grutero vergeblich sucht, mit Chronostichis, Chronodistichis, seltenen Anagrammatibus und andern dergleichen schätzbaren Dingen, aus den alten und neuern Zeiten pranget, gleich einem prächtigen Lustgarten, der mit allerley fremden und seltsamen Gewächsen ausgezieret ist. Ich schließe daher sehr sicher, daß Sie ein großer Liebhaber, und ein eben so großer Kenner von dergleichen wichtigen Erfindungen sind. Dadurch wurde ich bewogen, da mir insbesondere der Todesfall Ihrer Frau Großschwiegermutter die beste Gelegenheit darboth, mich in dieses, von mir bishero unbearbeitete Feld der Gelehrsamkeit zu wagen. Kein andrer Bewegungsgrund, als die Hochachtung gegen die verdienstvolle selige Matrone hat mich veranlasset, diejenigen Aufsätze zu verfertigen, welche sich dem scharfsichtigen Auge Eu. Excellenz im Anschlusse darstellen.[150]

Könnte ich mir schmeicheln, daß diese meine Geburten Ihnen nicht misfielen, oder vielleicht gar auf Dero Beifall einen Anspruch machen dürften, so würde dieses zu einem edlen Stolz verleiten


Eu. Excellenz

unterhänigen Diener

und nachahmenden Verehrer

M.L. Wilibald.


Anschluß.

Erste Numer.


Aufschrift eines Epitaphii, welches der seligen Frau Shirley könnte errichtet werden.


Q.F.F.Q.S.

VIATOR.

QVICVNQVE. ES.

ADSTA.

ET. HOC. MONIMENTO.

MONITVS.

VENERARE. MANES.

[151] MATRONAE. VENERABILIS.

HENRICAE. SHIRLEIAE.

EQVITIS. ANGLICANI.

EIVSDEM. NOMINIS.

VIRI. NON. MINVS. ERVDITI.

QVAM. GENEROSI.

VIDVAE.

OMNES FELICITATIS. GRADVS.

EMENSA.

FELIX. FELICIOR. FELICISSIMA.

FACTA.

VIRTVTIBVS. FELIX.

RELIGIONE. FELICIOR.

INTER. CAELITES. NVNC.

FELICISSIMA.

SI. VITAM. QVAERIS. PAVCA.

CAPE.

NON. FVIT. FVIT. NON. EST.

ERIT.

HAEC. SCIRE. TVA. INTERFVIT.

VIATOR.

SED. SCIRE. TVVM. NIHIL. EST.

NI. SCIAS.

PROGENERVM. DEFVNCTAM.

[152] HABVISSE.

VIRVM. SVI. NOMINIS.

CAROLVM. GRANDISONEM.

IAM. IN. REM. TVAM. ABI.

AC. MANIBVS.

QVIETEM. P.


Zweite Numer.


Ein Chronodistichon, welches unmasgeblich auf eine Gedächtnismedaille, der Wohlseligen zu Ehren, könnte geschlagen werden.


FraV ShIrLeI VVlrD, Der kVrzen Tage satt,

VVIe VVohL genVg betagt, gebraCht In DIese RVhestatt.


Dritte Numer.


Ein Anagramma, welches etwann unter das Bildnis der seligen Frau, oder sonst wohin könnte gesetzet werden.
[153]

Frau Henriette Shirlei.


Durch Buchstabenwechsel.


Ja, reis' hin! – Fleuch Retter!


Erklärung.


Ja, ja, reis' hin mein Geist nach jenen frohen Auen,

Hier kannst du Canaan nur von dem Nebo schauen;

Dort aber setzest du den Fuß bald selbst hinein,

Dort wird es besser, als hier in der Wüsten seyn.

Fleuch Arzt du Retter fleuch und kerkre nicht die Seele

Noch länger, durch die Kunst, in dieses Leibes Höhle.

Sie macht sich Banden los; weg mit der Arzenei,

Der Lebenstocht verglimmt, der Faden reißt entzwei!


N.S. Ich war eben im Begriff einige lateinische Chronodisticha und Anagrammata[154] zu verfertigen, um solche zugleich mit an Eu. Excellenz zu übersenden; ich werde aber eben zur Tafel gerufen, und darf meinen Gönner nicht auf mich warten lassen. Ich eile, meinen Brief zu siegeln.

Quelle:
Johann Karl August Musäus: Grandison der Zweite, Erster bis dritter Theil, Band1, Eisenach 1760, S. 146-155.
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