XXXV. Brief.

Fräulein Amalia an das Fräulein v.W.

[236] Schönthal, den 16 Sept. Abends um 6 Uhr.


Alleweile ist ein Bedienter von Ihrem Herrn Vater da gewesen, und hat uns auf morgen Mittag eingeladen.[236] Wir werden erscheinen. Mein Schwager ist heute Nachmittage in Kargfeld bey dem Oncle gewesen, und hat ihm einige gute Lehren auf morgen gegeben. Er hat ihn erinnert, die wichtigsten Stellen von der Verheiratung des Herrn Grandisons genau durchzulesen, damit er keine Fehler in der Nachahmung seines großen Musters begehe. Amalia, spricht er, ist manchmal leichtfertig, Herr Vetter, und wird das fehlerhafte in Ihrer Aufführung ihrem Bruder schreiben, wenn dieser es hernach Sir Carln erzehlte; so würden sie dadurch bei ihm verächtlich werden, daß sich ihr Herr Gevatter wohl gar Ihrer schämte. Er bat meinen Schwager, ihm einen Wink zu geben, wenn er etwas in seinem Bezeigen zu tadeln fände.


Der Brief, den Ihr Mädchen vor einer Stunde brachte, hat uns sehr gut gefallen. Wir sind nicht wenig stolz darauf, daß Sie unsern Rath für wichtig gnug halten ihn zu befolgen. Thun Sie es immer, wir versprechen uns davon viel gutes. Machen Sie[237] Sich ja keine Sorge, wenigstens nicht so gar viel. Mein Schwager giebt Ihnen sein Wort, daß Sie morgen den nachdrücklichen und beschämenden Ausbruch des väterlichen Ernstes gar nicht sollen zu befürchten haben; Sie können deswegen alle Furcht und Angst aus Ihrem Herzen verbannen. Wir wünschen, daß der morgende Tag mehr zum Vergnügen, als zu Jemands Verdrusse ausschlagen möge, wenn man aber doch ja verdrüßliche Gesichter erblicken müßte; so versichere ich Sie, daß Jedermann lieber ihrer Frau Stiefmutter, als Ihnen ins Gesichte gucken würde, um die verdrüßlichen Züge darinnen zu entdecken. Schlafen Sie ruhig, mein Julgen, schlafen Sie heute ruhig.


Amalia v.S.

Quelle:
Johann Karl August Musäus: Grandison der Zweite, Erster bis dritter Theil, Band1, Eisenach 1760, S. 236-238.
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