IV. Brief.

Der Herr von S. an seine Schwester.

[25] Londen den 24. April.


Liebe Amalia,


Meine Schwester gefällt mir, wenn sie aufgeräumt ist. Sie hat eine vortrefliche Gabe zu scherzen, und ich sehne mich oft nach ihren belebenden Umgang. Der Magister, Lampert, muß, wie ich sehe, noch die nämliche Rolle spielen, die er ehedem hatte: und es ist kein Wunder, wenn seine Thorheiten mit den Jahren zunehmen, da sich Jedermann Mühe giebt, ihn darinnen zu unterhalten; wiewohl die natürliche Leichtglaubigkeit und eine stolze Einbildung von seinen seltenen Verdiensten das meiste dabei thun. Du mußt ihm inliegenden Brief selbst übergeben. Nimm ihm aber zuvor alle schädliche und tödliche Werkzeuge weg, damit, wenn er in eine Raserei verfällt, er sich nicht die Kehle abschneiden möge. Gib mir alsdenn[26] eine getreue Nachricht von dem Ausbruch seiner Freude.

Ich habe hier in Londen eine ganz neue Welt vor mir. Gestern habe ich den König zum erstenmal gesehen. Er ist schon ein Greiß, aber voller Majestät. Empfiehl mich allen meinen Freunden und liebe


Deinen

aufrichtigen Bruder.

Quelle:
Johann Karl August Musäus: Grandison der Zweite, Erster bis dritter Theil, Band1, Eisenach 1760, S. 25-27.
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