VI. Brief.

Fräulein Amalia an ihren Bruder.

[30] Schönthal den 16. Mai.


Mein Bruder,


Deine Briefe haben uns ein unglaubliches Vergnügen gemacht. Der Baron war vorige Woche in der Stadt und erhielt sie da von der Post. Er setzte sich sogleich zu Pferde, um sie mir zu überbringen. Ich erbrach das Schreiben an mich, worinne ich das an den Magister eingeschlossen fand. Der Jäger mußte den Augenblick hinüber nach Kargfeld, und unsern Oncle nebst seiner Familie und den Magister zu uns einladen. Sie kamen etwas später als Herr Lampert, der sich in der Eile auf das Pferd unsers Jägers geschwungen hatte, und da war, ehe wir daran dachten. Er war ungedultig, den Brief an sich zu erbrechen; ich gab ihm aber diesen nicht eher, bis unser Oncle kam. Wir setzten uns nach den ersten Komplimenten[31] um den Magister herum; er hatte die Stühle in einen halben Zirkel gestellet. Ich will mir einbilden, ich stünde vor dem römischen Senate, sagte er. Hier soll die Geschichte des Grandisons, wie dort das Schicksal der halben bevölkerten Welt, erwogen und beurtheilet werden. Er stund, lösete das Siegel auf, nachdem er die Aufschrift gelesen hatte, und warf einen so hastigen und begierigen Blick in den Brief, um ihn ganz zu übersehen; als wie ein heishungriger Knabe auf eine Buttersemmel schielt, um sie auf einmal zu verschlingen. Er las; aber bey dem ersten Zeilen fing er schon an zu stocken. Kaum hatte er noch so viel Kraft, die Worte herzustammlen: Die ganze Geschichte Sir Carl Grandisons ist erdichter, da fiel ihm der Brief aus der Hand. Er stund wie angenagelt; sein Gesichte war entfärbet, und die Augen gläsern. Auf einmal riß er, mit einem entsetzlichen Geprassel, wie ich glaube, nach einen Gebrauche der Alten, seine Weste auf. Die hölzernen Dorlen aus den Knöpfen flogen uns in die Augen. Unser Oncle[32] war ohne Bewegung. Er hatte sich auf seinen Stock gelehnet; sahe mit den Augen starr vor sich nieder, und schien in dem Augenblicke hinzusterben. Der Magister rung und wund die Hände, und wiederholte oft einen lateinischen Spruch. Der Baron hat ihn gemerket: O vanitas vanitatum, heißt er, et omnia vanitas! Er ergriff darauf seine Halskrause, mir war bange, er würde sie zuziehen und sich erwürgen: er trocknete aber nur seine Thränen damit ab, die ihm in den Augen stunden.

Unterdessen hatte ich den Brief ausgehoben, und sprach dem armen trostlosen Manne einen Muth ein. Sie würden sich vor dem ganzen römischen Senate verächtlich machen, wenn Sie so wenig Standhaftigkeit zeigen wollten. Fangen Sie noch einmal an zu lesen, und lesen Sie den Brief ganz, wer weiß was er für einen Ausgang hat. Ich hatte ein wenig hinein geschielet und noch etwas von von Sir Carln erblicket.

Er setzte mit zitternder Stimme noch einmal an, und hatte so viele Standhaftigkeit,[33] den ersten Absatz, der ihm so schrecklich war, zu lesen. Nun kam er auf den zweiten. Alle seine Gesichtszüge wurden auf einmal verändert. Ein Mann mit zwei Gesichtern in einer Minute, dachte ich, das ist der leibhafte Janus Bifrons aus unserm Orangengarten. Er vergaß sich in seiner Freude. Alle Ausschweifungen zu erzälen, würde mir mehr Mühe kosten, als sie meinen Bruder vergnügen könnten. Viele lange lateinische Sprüche, die sich alle mit Dii immortales! anfingen, mußten wir wie die tiefsinnigen Aussprüche der Orakel hören, ohne sie zu verstehen. Unfehlbar hatte er vergessen, daß mehr Personen als er in den Saale wären. Er lief hastig hin und wieder; ich sorgte für den Spiegel und seinen Kopf. Er las den Brief wiederum mit so vieler Aufmerksamkeit, als wenn er seinen Augen nicht trauen dürfte. Den Namen Grandison drückte er jedesmal mit seinen Lippen. Bei meinem Oncle hatten wir fast gleiche Erscheinungen. Er saß nachdenkend auf dem Lehnstuhle, als wenn er das Gleichgewichte von Europa zu entscheiden hätte;[34] er schüttelte dann und wann den Kopf, und spielte mit seiner Dose zwischen den Fingern. Aller Augen sahen auf ihn und den Magister. Diese Pantomime dauerte eine gute Weile. Mein Schwager brach das Stillschweigen zuerst. Er wollte sich der Gemüthsverfassung, dieser beiden Leute bedienen, sie in ihren Irrthum tiefer einzuwicklen; Er schien eben so sehr in Erstaunen gesetzt zu seyn, als sie. Meine Schwester und ich mußten auch unsre Rolle spielen.

Der Magister foderte hierauf Jedermann, der keinen Grandison glaubte; oder noch einige Zweifel wider die Wahrheit seiner Geschichte vorzubringen hatte, zu einem gelehrten Gefechte heraus. Er sahe uns allen, und besonders mir, steif ins Gesichte.

Wie stehet es denn nun, mein naseweises Bäsgen, sagte der Oncle zu mir, wollen sie hinführo mehr über den Grandison streiten?

Ich schlug die Augen nieder, und gab mir das Ansehen, als wenn ich beschämt wäre, ich zwang mich roth zu werden. Mein[35] Schwager rief den Jäger herein: Anton, hierdurch gebe ich ihm gemessenen Befehl, den ersten jagdbaren Hirsch, der mein Gehäge betritt, vor den Kopf zu schießen, mir den Braten in die Küche, und gegenwärtigem Herrn Magister Wilibald die Haut auf seine Studierstube nach Kargfeld zu liefern, wornach er sich zu achten hat. Meine Schwester ließ das Kammermädchen rufen, dem Magister das Maas zu den Armbindgen, woran die Manschetten kommen sollten, zu nehmen: er verbat es aber, und ersuchte uns, die Manschetten, in Halskrausen zu verwandeln. Er wird in kurzem an dich schreiben, wenn sein Gemüthe etwas ruhiger ist. Niemand hofft begieriger auf die Briefe ihres geliebtesten Bruders, als


Seine

Amalia v.S.

Quelle:
Johann Karl August Musäus: Grandison der Zweite, Erster bis dritter Theil, Band1, Eisenach 1760, S. 30-36.
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