Christnacht

[24] Durch die Fenster seh' ich's flimmern,

Grün und Gold und Kerzenschein,

Jauchzend hör' ich durch die Laden

Helle Kinderstimmen schrein.


Schmetternde Posaunen schallen

Von dem Kirchenthurm herab:

Lobt den Vater in der Höhe,

Der der Welt das Kindlein gab!


Herz, mein Herz, wie bist so selig?

Herz, mein Herz, und so allein?

Unsre Gaben, unsre Wünsche,

Dürfen wir sie Keinem weihn?


Eine weiß ich wohl zu finden,

Der ich Vieles gönnen mag;

Offen steht mir ihre Pforte,

Und es kennt mich ihr Gemach.


Aber in dem stillen Hause

Brennt kein festlich helles Licht,

Und im schwarzen Wochenkleide

Sitzt sie da und freut sich nicht.
[24]

Ach, ihr ist er nicht geboren,

Der in dieser sel'gen Nacht

Freud' und Fried' und Wohlgefallen

Hat zu uns herabgebracht.


Seine Liebe, seine Leiden

Dringen nicht zu ihr hinein:

Über ihre zarte Seele

Herrschet ein Gesetz von Stein.

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 24-25.
Lizenz:
Kategorien: