Achter Tag.

[439] Als der Morgen gekommen war, erkundigten sie sich, ob der Brückenbau fortschritt, und sie erfuhren, daß er in zwei bis drei Tagen vollendet sein würde. Einigen der Gesellschaft war das unlieb, denn sie hätten lieber gewünscht, daß die Arbeit noch länger gedauert hätte, um noch länger das Vergnügen dieser in froher Unterhaltung verlaufenden Tage zu haben. Da sie nun hörten, daß sie nur noch zwei bis drei Tage vor sich hätten, beschlossen sie, sie noch auszunützen, und baten Frau Oisille, ihnen die gewohnte Predigt zu halten. Sie that es auch, aber hielt sogar eine noch längere als gewöhnlich; sie wollte nämlich vor ihrer Trennung noch die Offenbarung Johannis zu Ende gebracht haben und sie entaedigte sich dieser Aufgabe auch so gut, daß es den Anschein hatte, als wenn der heilige Geist voller Liebe und Milde aus ihrem Munde spräche. Ganz erfüllt von diesem heiligen Feuer gingen sie darauf, um die Messe zu hören. Nach Tisch, als sie noch von[440] dem vergangenen Tage sprachen, zweifelten sie, ob sie demselben einen gleich schönen würden anreihen können. Um sich vorzubereiten, zog sich ein jeder in seine Wohnung zurück, bis zur Stunde, wo sie an den Ort ihrer Erzählungen nach der grünen Wiese gingen, wo sich die Mönche schon eingefunden und ihre Plätze eingenommen hatten. Nachdem sich jeder gesetzt hatte, fragte man, wer heut beginnen sollte. Saffredant sagte: »Ihr habt mir die Ehre erwiesen, an zwei Tagen den Anfang machen zu dürfen; es scheint mir nun, daß wir den Damen Unrecht thäten, wenn nicht wenigstens eine auch zwei Tage einleitete.« »Dann müßten wir entweder sehr lange hierbleiben«, sagte Frau Oisille, »oder einer von Euch, beziehentlich eine von uns müßte keinen Tag haben.« »Was mich anbetrifft«, sagte Dagoucin, »so würde ich, wenn man mich wählte, meine Stimme wieder nur Saffredant geben.« »Und ich«, sagte Nomerfide, »würde sie Parlamente gegeben haben, denn ich bin so daran gewöhnt, die zweite Stelle zu haben, daß ich garnicht verstehen würde, eine erste anszufüllen.« Die Gesellschaft schloß sich dem an, und Parlamente begann folgendermaßen: »Meine Damen, die vergangenen Tage sind so voller verständiger Erzählungen gewesen, daß ich bitten möchte, es möge dieser nur so thörichte, als uns irgend einfallen können, enthalten, aber immer wahrheitsgetreue; ich will also beginnen.«

Quelle:
Der Heptameron. Erzählungen der Königin von Navarra. Leipzig [o.J.], S. 439-441.
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