Dritter Tag.

[165] Als am anderen Morgen die Gesellschaft in den gemeinschaftlichen Saal kam, fand sie daselbst Oisille, die schon seit einer halben Stunde die Predigt überdachte, die sie halten wollte. Und wie das vorhergehende Mal, waren alle auch diesmal mit der Rede wohl zufrieden, und wäre nicht einer der Klosterbrüder gekommen, um sie zur Messe zu holen, so würden sie bei ihrem aufmerksamen Zuhören die Glocke überhört haben. Als sie dann die Messe gehört und sehr mäßig zu Mittag gegessen hatten, damit ein übermäßiger Genuß nicht ihr Gedächtniß herabminderte, zogen sie sich ein jeder auf sein Zimmer zurück, um ihre Tagebücher durchzusehen und die Stunde für die Zusammenkunft auf der Wiese abzuwarten. Als diese nun gekommen war, fanden sie sich alle dort zusammen. Denen, die eine amüsante Geschichte erzählen wollten, war es schon am Gesicht anzusehen, so daß sie sich alle der Hoffnung hingaben, viel lachen zu können. Als sie nun Platz genommen hatten, fragten sie Saffredant, wem er das Wort gebe. Dieser sagte: »Wenn der Fehler, den ich gestern machte, wirklich so groß ist, wie Ihr sagtet[166] und da ich keine Geschichte weiß, um ihn wieder gut zu machen, gebe ich Parlamente das Wort, die es schon verstehen wird, die Damen so zu loben, daß die Wahrheiten, die ich gestern sagte, in Vergessenheit gerathen werden.« Parlamente erwiderte: »Ich will es nicht unternehmen, Euren Fehler wieder gut zu machen, aber ich werde mich hüten, einen gleichen zu begehen. Deshalb habe ich mich entschlossen, immer bei der zur Bedingung gestellten Wahrheit bleibend, Euch zu zeigen, daß es sehr wohl auch Damen giebt, die in ihrer Freundschaft und Neigung kein anderes Ziel als die Ehrbarkeit vor Augen haben. Und da diejenige, von der ich Euch erzählen will, aus vornehmem und bekanntem Hause stammt, werde ich in der Geschichte nichts als den Namen ändern und Euch bitten, überzeugt zu sein, daß die Liebe nicht die Macht hat, einem Herzen die Keuschheit und das Gefühl für Wohlanständigkeit zu nehmen, wie die folgenden Begebenheiten Euch darthun werden.«

Quelle:
Der Heptameron. Erzählungen der Königin von Navarra. Leipzig [o.J.], S. 165-167.
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