Sechster Tag.

[345] Am anderen Morgen ging Frau Oisille zettiger als gewöhnlich in den Saal, um sich für ihre Vorlesung vorzubereiten; als die ganze Gesellschaft das erfuhr, beeilten sie sich in dem Wunsche, ihre guten Belehrungen anzuhören, so sehr mit dem Anziehen, daß sie Oisille nicht lange warten ließen. Da sie die Herzen ihrer Zuhörer kannte, las sie ihnen die Epistel des Evangelisten Johannes vor, der voll von Liebe ist. Den anderen gefiel diese Kost so gut, daß, obgleich sie eine halbe Stunde länger als alle anderen Tage blieben, es ihnen schien, als sei es noch nicht eine Viertelstunde gewesen. Von da aus gingen sie die Messe hören, wo jeder sich dem heiligen Geist empfahl, damit er auch bei ihrer vergnügten Versammlung gegenwärtig sei. Nachdem sie dann gegessen und geruht hatten, gingen sie, ihren gewohnten Zeitvertreib fortzusetzen. Frau Oisille fragte, wer an diesem Tage beginnen würde, und Longarine antwortete darauf: »Edle Frau, ich ertheile Euch das[345] Wort, denn Ihr habt uns heut eine so schöne Vorlesung gehalten, daß Ihr uns sicherlich noch eine Geschichte erzählen könnt, die der Ruhm, welchen Ihr heut Euch verdient habt, vollendet.« »Es thut mir leid«, sagte Oisille, »daß ich Euch heute Nachmittag nicht eine ebenso zuträgliche Geschichte erzählen kann wie heute früh; jedenfalls wird meine Geschichte nicht aus der Lehre der heiligen Schrift heraustreten, wo geschrieben steht: ›Vertrauet nicht den Fürsten noch den Menschenkindern, denn in ihnen ist nicht Euer Heil.‹ Und damit Ihr aus Mangel an Beispielen nicht diese Wahrheit in Vergessenheit gerathen laßt, werde ich Euch eine ganz wahrheitsgetreue Geschichte erzählen, die sich vor so kurzer Zeit begab, daß kaum noch die Augen derer, welche dieses traurige Schauspiel sahen, getrocknet sind.«

Quelle:
Der Heptameron. Erzählungen der Königin von Navarra. Leipzig [o.J.], S. 345-346.
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