Zweiter Tag.

[88] Am andern Morgen standen sie voll Verlangen auf, an den Ort zurückzukehren, wo sie sich tags zuvor so gut unterhalten hatten; denn jeder hatte seine Erzählung so bereit, daß er es kaum erwarten konnte, sie hören zu lassen. Nachdem sie die Vorlesung von Frau Oisille und die Messe gehört hatten, wo jeder sich Gott empfahl, damit er ihnen ein ferneres Beisammensein gnädig gewähre, gingen sie essen, indem sie sich gegenseitig verschiedene Geschichten erzählten.

Als sie sich nach dem Essen in ihren Zimmern ausgeruht hatten, begaben sie sich zur bestimmten Stunde auf die Wiese, woselbst der Tag und das Wetter ihrem Unternehmen sehr günstig schienen. Nachdem sie sich alle auf die natürlichen Sitze des frischen Rasens niedergelassen hatten, sprach Parlamente: »Da ich gestern Abend die zehnte Erzählung beendet habe, ist es an mir, die zu erwählen, welche heute die Leitung haben soll. Und da gestern Frau Oisille als die Älteste und Weiseste zuerst gesprochen hat, gebe ich meine Stimme der Jüngsten (ich will nicht sagen der Thörichtesten) und bin sicher, daß, wenn wir ihr alle folgen, wir heute den Nachmittagsgottesdienst[89] nicht so lange hinausschieben werden wie gestern. Also, Nomerfide, es ist heute an Euch, zu erzählen; aber ich bitte Euch, laßt uns den Tag nicht mit Thränen anfangen.« »Ihr braucht mich nicht darum zu bitten«, antwortete Nomerfide, »denn ich hatte schon beschlossen, Euch eine Geschichte zu erzählen, welche ich im vorigen Jahre von einer Bürgerin aus Tours vernahm; sie war in Amboise geboren und versicherte mir, bei den Predigten des Franziskanermönches, von denen ich Euch berichten will, selbst zugegen gewesen zu sein.«

Quelle:
Der Heptameron. Erzählungen der Königin von Navarra. Leipzig [o.J.], S. 88-90.
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