14. Gesang zur Andacht


Auff die Weise deß hundert und vierdten Psalms

[185] Auff, auff, mein Hertz', und du mein gantzer Sinn,

Wirff alles das, was Welt ist, von dir hin;

Wo daß du wilt, was göttlich ist, erlangen,

So laß den Leib, in dem du bist gefangen.

Die Seele muß von dem gesäubert seyn,

Was nichts nicht ist, als nur ein falscher Schein,

Muß durch den Zaum der Tugend dämpffen können,

Die schnöde Lust der eusserlichen Sinnen.


Ein jeder Mensch hat etwas, das er liebt,

Das einen Glantz der Schönheit von sich gibt;

Der suchet Gelt und trauet sich den Wellen,

Der gräbet fast biß an den Schlund der Höllen;

Viel machen sich durch Kriegesthat bekant

Und stehn getrost für Gott und für ihr Land:

Der dencket hoch und strebet gantz nach Ehren,

Und jener läßt die Liebe sich bethören.


Indessen bricht das Alter bey uns eyn,

In dem man pflegt umb nichts bemüth zu seyn;

Eh' als wir es recht mögen innen werden,

Es kömpt der Tod und rafft uns von der Erden.

Wer aber gantz dem Leib' ist abgethan

Und nimpt sich nur der Himmels-Sorgen an,

Setzt allen Trost auff seines Gottes Gnaden,

Dem kan noch Welt, noch Tod, noch Teuffel schaden.
[185]

Den Ancker hat der Noah eingesenckt,

Da als er war mit Lufft und See verschrenckt;

Der grosse Trost hat Abraham erquicket,

Als er sein Schwerd nach Isaac gezücket.

Der Glaube muß von Gott erbetten seyn,

Der einig macht, daß keine Noth noch Pein

Und Todes-Angst auch den geringsten Schmertzen

Erwecken kann in frommer Leute Hertzen.


Drumb schau', o Mensch, hinauff und über dich,

Nach dem, was nicht den Augen zeiget sich,

Was niemand kan beschliessen in den Schrancken

Der Sterblichkeit und flüchtigen Gedancken.

Vollbringstu das, mein Hertz', und du, mein Sinn,

Und lägst die Last der Erden von dir hin,

Sagst ab dem Leib', in dem du bist gefangen,

So wird Gott dich, und du wirst Gott erlangen.

Quelle:
Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart [1889], S. 185-186.
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