10. Einer Jungfrauen Klage über nahendes Alter

[28] Ach, wo ist nun die Zeit, in der man pflag zu gleichen

Der Rosen schöner Zier mein' edele Gestalt?

Ja freylich bin ich so, nun ich bin grau und alt.

Eh' als der Sonnen Glantz die Rose kan erreichen,


So muß sie durch die Lufft der Nacht zuvor verbleichen

Und hat nur von dem Thau ein wenig Unterhalt;

So netzen mich jetzt auch die Threnen mannigfalt,

Weil ich die junge Zeit nun habe lassen schleichen.


Geht dann der Morgen an, so wird die Rose roth;

Ich werde schamroth auch, gedenck ich an die Noth.

Doch hab ich diesen Trost, daß gleich wie von den Winden


Die Rose, wann der Tag sich neigt, wird abgemeit,

So werd' auch ich, weil nun mein Abend nicht ist weit,

Kan ja es hier nicht seyn, doch Ruh' im Grabe finden.

Quelle:
Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart [1889], S. 28.
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