IV. Die Enthusiasmierten oder Begeisterten

[211] Beginnen wir mit den Worten Dokt. Jungs, welcher mit diesen in seinen Vorlesungen über Frauen die Enthusiasmierten bespricht: [...][211]

»Der Enthusiasmus der jetzigen Zeit hat darin einen Vorzug vor dem einer früheren, daß er die bloße Sentimentalität überwunden und mit dem Gemüt zugleich den Verstand in sich kultiviert hat, was jetzt namentlich bei Frauen, mehr als zu einer andern Zeit hervortritt.«

Das Gottesreich zu erkennen und es suchen immer weiter auszubreiten – das ist der Lebenszweck aller echten Demokratinnen – er macht sie zu den Begeisterten, den Enthusiasmierten, welche wir schildern wollen.


[...]

Der enthusiasmierten Demokratie ist die Demokratie »Religion«.


[...]

Die Demokratie trachtet nach der Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden.

Darum wird jede begeisterte Demokratin alles daran setzen, was in ihren Kräften steht, um beizutragen, daß dieses erhabene Ziel näher gerückt und die Erreichung desselben beschleunigt werde.

Die Enthusiasmierte stellt diese Bestrebungen über alle andern und gibt ihnen so viel Aufopferung, als nur von ihr gefordert wird. Sie scheut keinen öffentlichen Schritt, wo die Verhältnisse ihn gebieten und sie durch denselben die Zwecke der Demokratie fördern kann – sie tut ihn, unbekümmert um das, »was die Leute dazu sagen«, wie diese nun einmal sind; sie scheut das öffentliche Urteil nicht, im Bewußtsein, das Rechte und Notwendige zu tun, aber sie fordert es auch nicht heraus. [...]

Die Enthusiasmierte wird sich nicht abhalten lassen, an einem demokratischen Verein teilzunehmen, als dessen Mitglieder man ihr die anrüchigen Namen einiger Forcierten oder Frivolen nennt – im Gegenteil wird sie gerade deshalb hingehen, um durch ihren achtungswerten Namen wie ihr edles Streben den besseren Elementen in einem solchen Verein die Oberhand zu verschaffen.

[...] Man hatte vorher viel geschwatzt von der Zivilisation des Jahrhunderts, welche blutige Schandtaten, wie jene Zeiten sie sahen, nicht mehr würde aufkommen lassen – diese und andere Redensarten haben sich als irrig erwiesen, die blutigen Schandtaten, von denen wir bisher nur in Chroniken lasen, sind unter unser aller Augen geschehen. Noch aber will es scheinen, als habe die Zivilisation doch einen Fortschritt gemacht: man hat bisher noch keine Frauen ermordet – wo sie nicht von absichtslosen Kugeln im Straßenkampf gefallen sind. Man hat einige gefangengenommen und andere ausgepeitscht, aber ihre Zahl ist doch nur gering, den Gefangennehmungen und Ermordungen gegenüber, welche man so massenhaft an den Männern vollzogen hat. Wohl möglich, daß dies auch noch kommt, denn von dem Fanatismus, der Rachgier ist alles zu erwarten, und wie entsetzlich das jetzige Jahr auch sein mag – vielleicht ist es nur ein kleines Vorspiel, und die folgenden Jahre bringen das Drama, bringen die blutige Ernte der blutigen Saat. Man muß den Mut haben, sich mit solchen Vorstellungen vertraut zu machen, damit die Zukunft uns nicht unvorbereitet trifft. – Die Enthusiasmierten werden in solcher Zeit so wenig von ihrer Begeisterung einbüßen, wie dies bei ihren Vorgängerinnen vor Jahrhunderten und Jahrtausenden der Fall war. Im Gegenteil: die Menschen wachsen mit den Zeiten, nur in großen Zeiten entwickeln sich die großen Menschen. Es ist in der Tat wohl auch nicht schwerer, für seine Überzeugung zu sterben, als unter Hohn, Schmach und Jammer für sie zu leben. Dies letztere ist jetzt das Los der Demokratinnen. [...]

L.O.[212]

Quelle:
»Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen«. Die Frauen-Zeitung von Louise Otto. Frankfurt a.M. 1980, S. 211-213.
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