Für die Arbeiterinnen.

Zweiter Artikel

[183] Inhalt: Kleinkinderbewahranstalten – Unmenschlichkeit gegen uneheliche Kinder – Dienstmädchen – Aufwärterinnen


(Schluß)


Die Kleinkinderbewahranstalten sind allerdings von großem Nutzen, und ist ihre Einführung überall zu wünschen – allein sie kommen doch nicht der allerärmsten Bevölkerung zugute. Diese können nicht 4 Pfennige (der geringste Satz) den Tag für die Versorgung ihrer Kinder geben – sie können ferner die Kinder nicht immer »reinlich kleiden«, und anders werden sie nicht angenommen,[184] sie haben ferner keine Zeit, dieselben erst in die vielleicht entlegenen Anstalten zu führen – und selbst diejenigen, welche dies alles könnten, wollen es nicht, weil es ihnen eben gleich ist, wie es den Kindern geht, aber nicht gleich, ob sie etwas kosten oder einbringen; statt einige Pfennige für das Kind auszugeben, finden sie es besser, wenn dieses so viel erbettelt. Ferner werden auch in diesen Anstalten (von einigen wenigstens ist mir dieser Artikel aus den Statuen bekannt) viele Kinder gar nicht zugelassen, nämlich: die unehelichen. Die Frauen, in deren Händen diese Anstalten sind, meinen, dadurch die Moral zu fördern oder sich ein Erröten zu ersparen, wenn sie diese Kinder ein für allemal zurückweisen. Mir ist ein Fall bekannt, wo ein junges Mädchen, das mit zu den Vorsteherinnen einer Kinderbewahranstalt gehörte, sich warm für die Aufnahme eines verwahrlosten unehelichen Kindes verwendete und deshalb von ihren Kolleginnen, die ältere verheiratete Damen waren, zur Rede gesetzt ward, ob sie sich nicht schäme, als die Jüngste unter ihnen des Kindes einer liederlichen Dirne sich anzunehmen? und die Arme wäre für ihr natürliches Rechtsgefühl gewiß gesteinigt worden, wenn das Steinigen noch Mode wäre. – Dieser eine Fall läßt einen tiefen Blick auf den christlichen Staat und auf die Verkehrtheiten weiblicher Anschauungen tun. »Wer von Euch ohne Sünden ist, der werfe den ersten Stein auf sie«, sagte Jesus Christus neben der Sünderin, nach dem sie sich doch nennen und dessen Hoheit sie niemals begriffen haben. Sie meinen, an ihn zu glauben, und glauben doch seinen Worten nicht, denn nicht nur die Sünderin, auch ihre Kinder wollen sie steinigen! sie schließen die unschuldigen Kleinen von allen Wohltaten aus, und wollen den alten furchtbaren Fluch gewaltsam erfüllen: daß die Sünden der Väter heimgesucht werden sollen an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied. Die Frauen aber meinen nur, das sei der weiblichen Würde gemäß, die gefallenen Schwestern noch tiefer ins Elend zu stoßen oder nie ein Wort zu sich dringen zu lassen, das ihr Zartgefühl beleidigen könnte. Ihre Schwestern mögen im Schlamm der Sünde, des Elends, der Gemeinheit rettungslos ersticken und zugrunde gehen, das kümmert diese zartfühlenden Damen nicht, solange sie nur Aug' und Ohr sich zuhalten können, und sich stellen, als wüßten sie nichts von der Demoralisation der Gesellschaft. Sie kennen sie aber recht gut – aus den Romanen der Franzosen sehr genau, wenn ja die Wirklichkeit sie ihnen nicht sollte gezeigt haben. Auch diese Heuchelei und Prüderie ist an manchem Unheil schuld – reißt dem Verbrechen den Schleier ab, seht die Dinge, wie sie sind, laßt die ganze Entsittlichung der Zeit vor euch aufsteigen und wenn ihr meint, vor Scham und Entsetzen zu vergehen, so laßt die Verletzung eurer heiligsten Gefühle und den Schrei eures Entsetzens zu einem Hilferufe werden, der so lange im ganzen Volke widerhalle, bis es in demselben zu Einrichtungen gekommen ist, vor denen niemand mehr zu erröten und zu erschrecken braucht. Ja, laßt das Erröten über die Schmach unserer verirrten, verzweifelnden Schwestern zum Morgenrot der Liebe werden, das eine Zeit verkündigt, wo nicht mehr die verwahrloste Erziehung und die Verzweiflung der Not Verbrecherinnen macht! Nicht Worte sind's – es sind Zustände, deren wir uns zu schämen haben, sie bleiben dieselben, wenn wir, um uns ein Erröten zu ersparen, vermeiden, uns an sie zu erinnern.

Haben wir gesehen, wie die Kindheit der Arbeiterinnen vergeht, so laßt uns nun einen Blick auf ihre Jugend werfen. Bei dem herumtreibenden Leben, das sie bis zu ihrer Konfirmation führen mußten, haben sie natürlich nichts gelernt.[185] Vermieten können sie sich nicht, denn wer ein Mädchen in Dienst nimmt, verlangt, daß es ordentlich gekleidet erscheine, und dazu sind sie zu arm. Sie wird also Arbeiterin auf einem Wollboden, in einer Zigarren-Fabrik oder dergleichen. So ist sie im zartesten Alter, wo sie einer Leitung bedürfte, besonders da sie so gut wie keinen Schulunterricht und gar keine häusliche Erziehung genossen, schon selbständig und allen Versuchungen preisgegeben. Arbeiten in der Fabrik die Mädchen auch gesondert von den Männern, so ist doch der Nachhauseweg oft ein gemeinschaftlicher, es knüpfen sich Bekanntschaften an, die natürliche Liebesregung erwacht bei den ersten Liebeszeichen, der moralische Halt fehlt, und der erste Schritt in die Arme des Lasters ist geschehen. Oder das Mädchen lauscht den Erzählungen ihrer Gefährtinnen, es sieht sie besser gekleidet als sich, sieht sie zum Tanz gehen, wohin es nicht kann – der Wunsch wird rege, auch so leben zu können, wie jene – es kann es, sobald es nur will, schon mehr als einmal sind Männer ihm auf dem abendlichen Nachhauseweg freundlich begegnet, vornehme feine Herren – nun antwortet sie ihnen freundlich und kann sich bald auch so putzen wie die Gefährtinnen. So gibt es tausend Fälle, denn tausendfach sind die Versuchungen der Armut und Niedrigkeit, ich will sie nicht alle herzählen, wo das Ende doch immer dasselbe ist. In den großen Städten gelten die Mädchen der dienenden Klasse geradezu für entsittlicht oder unehrlich und anspruchsvoll – da wird man überall in den Anzeigeblättern lesen, wie Mädchen gesucht und empfohlen werden durch die Formel »nicht von hier«. So leiden überall die Unschuldigen mit den Schuldigen, denn so schlimm steht es doch nicht um die arme weibliche Bevölkerung, daß alle Redlichkeit und Unverdorbenheit bei ihr untergegangen wäre. Aber das Vorurteil ist da bei den Reichen, sie wollen oft nur deshalb ein Mädchen nicht, weil es sehr arm ist und arme Verwandte hat – einmal, weil sie dann meinen, das Mädchen wird um ihrer Angehörigen willen sich zuweilen Entbehrungen auferlegen, die ihr der Herrschaft, unangenehm wären, oder es wird kleine Unehrlichkeiten begehen für die Seinigen. Das Mißtrauen ist da – es ist zuweilen begründet gewesen, und darrum ist es unvertilgbar; dies Mißtrauen gegen die Armut ist ihr härtester Fluch, es hält sie für ewig fest in dem Kreise der Ausgestoßenen! So wird die Tochter der Armut, wenn sie in Dienst gehen will, nur wieder bei armen Leuten für den geringsten Lohn ein Unterkommen als Kindermädchen finden, denn viele der kleinen Handwerker oder Beamten, die kaum genug für sich selbst zu leben haben, halten sich doch ein Dienstmädchen, einmal aus Dünkel oder auch dann aus Not, wenn die Frau mitarbeiten, verkaufen usf. muß und nicht immer um die Kinder sein kann. Die Mädchen bekommen dann wohl oft nicht satt zu essen, müssen sich von früh bis spät in die Nacht plagen, empfangen die roheste Behandlung, können von dem geringen Lohne nie etwas zurücklegen, und es ist dann wohl kein Wunder, wenn sie hie und da einmal von dem Brot der Familie sich satt essen, das nicht für sie bestimmt war. Aber das nennt die Herrschaft »betrügen« und schreibt es wohl gar in das Gesindebuch. Daß dabei kein Mädchen sich etwas sammeln kann, nur für die Zeit, da sie einmal ohne Dienst ist, geschweige denn für später, ist natürlich. – Die Mädchen, die noch bei Eltern und Geschwistern Aufnahme finden, ziehen es oft vor, statt in Dienst zu gehen, nur »Aufwärterinnen« zu werden. Sie versorgen die häuslichen Geschäfte bei mehreren Personen, besonders einzelnen Herren, und können so oft mehr verdienen denn als Dienstmädchen. Aber da meist ganz junge Mädchen Aufwärterinnen sind, ist ihre[186] Stellung immer eine gefährliche, sie sind sich ganz selbst überlassen, und da sie nur an gewissen Stunden des Tages beschäftigt, übrigens ohne Aufsicht sind, ist es nicht zu verwundern, wenn sie müßiggängerisch und liederlich und endlich auch demoralisiert werden.

Halt! ich sehe neue Verwunderung, daß ich nahe daran bin, der alten Zeit das Wort zu reden, die von den meisten zuletzt angeführten Einrichtungen nichts wußte – nein, wenn nur alle die neuen Einrichtungen des täglichen Lebens nicht auf alten Fundamenten ruhten, diese sind's, die ich auch bekämpfe. Das Gute der alten Zeit ist längst vernichtet, warum will man denn ihr Schlechtes um jeden Preis beibehalten.

Die Erziehung der untern Stände, insbesondere die der Frauen, muß eine ganz andere werden, das ist der Grund, der anders gelegt werden muß – und davon in einem spätern Artikel.

Louise Otto[187]

Quelle:
»Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen«. Die Frauen-Zeitung von Louise Otto. Frankfurt a.M. 1980, S. 183-188.
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