III. Mutter und Tochter

[43] »Fester ist der Seelen Band als Eisen,

Heiliger als Opfer ihre Gluth.«

Karl Haltaus.


Einige Tage nach Aureliens Ankunft saß Elisabeth allein in ihrem Zimmer. Sie warf wehmüthige Blicke zum Fenster hinaus auf die abgemäheten Saatfelder, von denen die Stoppeln öde und starr gleichsam zum Himmel in trostloser Eintönigkeit aufklagten, daß man ihnen ihre goldenen Halme genommen, mit denen sie einst ein wogendes Spiel aufführen konnten zur Ehre der Schöpfung. Auch drüben der Wald begann sich schon zu färben, rothe und gelbschillernde Stellen wurden darin bemerkbar, wo vorher nur grüne Schattirungen sich gezeigt hatten. Und recht still war's draußen geworden, kaum daß noch hier und da eine wirbelnde Lerche aufflatterte oder ein Heimchen still verborgen im Grase zirpte auf der Wiese, die schon zum zweiten Male gemäht ward – aber stumm geworden waren all'[43] die fliegenden Sänger im Walde, auf dem Felde und im Garten. Die im Lenz den ganzen Tag lang von Zweig zu Zweig geflogen waren, um vom frühen Morgen bis zum späten Abend sorglos frei und froh ihre Lieder zu singen, die saßen jetzt still in den heimischen Nestern bei der jungen Brut und lehrten ihr, sich putzen und fliegen und Nahrung suchen – Lieder lernten sie ihnen nicht, das nutzlose Singen trage doch Nichts ein, meinten sie, das lernten sie schon allein und dächten dann, sie hätten nichts Anders zu thun, so leichtsinnig und schlimmgeartet sei nun jetzt einmal die Jugend. Die klugen alten Vögel! Sie betrügen sich nur selbst – aber sie sind nicht klug genug, um diese Rolle lange durchzuführen – im neuen Lenz suchen sie all' ihre alten Lieder wieder hervor und probiren und musiciren, daß es eine Lust ist. Aber jetzt waren sie alle still und schwiegen verständig. Die Pyrolen schüttelten gar schön die goldenen Gefieder, breiteten die glänzenden schwarzen Schwingen aus und riefen einander mit ihrem verabredeten Zeichen, dem Pfeifenaccord zusammen zum großen Fluge nach Süden. – Unten am Teiche wanderten zwei Störche bedächtig nebeneinander und setzten mit ernsthaftem Geklapper Tag und Stunde der Reise fest.

Elisabeth sah dem Allen träumend zu, und wie jetzt auch noch ein herbstlich kalter Wind ihr entgegen wehte, so zog auch ein unheimlicher Schauer durch ihre Seele, der ihr bisher[44] fremd gewesen. Die Vögel, die sich zur Reise rüsteten, mahnten sie daran, daß bald nach ihnen ihr Sänger fortziehen, daß ihr Jaromir die sterbende Natur mit der lebendigen Stadt vertauschen werde. Sie malte es sich aus, wie der Park veröden werde ohne ihn.

Auch ein kleiner Auftritt von gestern kam ihr nicht wieder aus dem Gedächtniß und trug dazu bei, ihre trübe Stimmung zu erhöhen. Sie hatte nämlich gestern im Gesellschaftszimmer einen Band Gedichte von Jaromir liegen lassen. Aarens war dagewesen und hatte ihn zur Hand genommen, man hatte über die Gedichte und den Dichter gesprochen und der Graf Hohenthal hatte Aarens aufgefordert, eines oder das andere davon vorzulesen, da ihm noch alle unbekannt seien. Aarens hatte mit lächelnder Miene ein Freiheitslied aufgesucht und vorgetragen, das dem Grafen wegen seiner radicalen Tendenz höchlichst mißfiel – er wollte ein anderes hören, Aarens suchte ein anderes: »An die Frauen« – und sagte, der Titel lasse doch auf einen zarteren Inhalt schließen – aber in diesem Lied wurden die Worte: Frau und frei als zwei Synonymen gebraucht und die Frauen aufgefordert, auch nicht zurückzubleiben im würdigen Dienst der neuen Zeit – dies Lied empörte die Gräfin noch mehr als den Grafen, sie fand es ganz unverträglich mit der Achtung und zarten Ergebenheit, welche sie für ihr ganzes Geschlecht in Anspruch[45] nahm, Aarens machte bittere Bemerkungen, fügte bei: an Achtung gegen die weibliche Würde dürfe man bei einem Menschen wie Szariny nicht denken – blätterte dann in dem Buch und erklärte nachher: die Gedichte wären alle in dieser Weise und warf es mit verächtlicher Miene weg. Elisabeth hatte während dessen unaussprechlich gelitten, jetzt wußte sie sich nicht mehr zu fassen – sie nahm das Buch und sagte erzwungen ruhig: »Ich kenne diese Gedichte besser als Sie, Herr von Aarens, und werde nun selbst eins vorlesen« – ihr Vater wollte das erst überflüssig finden, sie ließ sich aber nicht abbringen und las eine Ballade, welche ein mittelalterliches Sujet behandelte und nun wirklich dem Grafen sehr gefiel. – Sobald sie dieselbe aber zu Ende gelesen, entfernte sie sich mit dem Buch, um es nicht länger entweihen zu lassen. – Der angenehme Eindruck verwischt sich aber schneller, als der unangenehme, und so ging es auch dem Elternpaar mit Jaromirs Gedichten. – Später, als Aarens ging, sagte er beim Abschied zu Elisabeth mit einer besonders feierlichen und zärtlichen Miene, daß er am andern Tag wiederkommen werde – und bis dahin bitte er alle guten Genien bei ihr ein freundliches Wort für ihn zu reden. –

Dies Alles zusammen machte Elisabeth heute wehmüthig, verstimmt, unruhig.

Da ging die Thüre ihres Zimmers auf und ihre[46] Mutter trat ein. Es war dies ungewöhnlich – auch sah sie besonders feierlich aus und deshalb schrak Elisabeth bei ihrem Kommen unwillkürlich leise zusammen.

»Mein Kind,« sagte die Gräfin, sie umarmend, »Du bist mir seit einiger Zeit ausgewichen, Du hast bemerkbar ein Alleinsein mit mir vermieden – und so komme ich denn zu Dir in Dein Zimmer – –«

»Liebe Mutter!« rief Elisabeth und schmiegte sich mit Vergebung suchenden Augen an sie und zog sie neben sich auf das Sopha.

»Wir sind hier am Ungestörtesten,« begann die Gräfin, »wir können hier gegen einander Alles aussprechen, was wir auf unsern Herzen haben – und die Scheidewand wird fallen, welche sich seltsam zwischen uns aufgerichtet hat.«

Elisabeths Augen senkten sich zu boden, sie schwieg, obwohl die Mutter eine Antwort von ihr zu erwarten schien. Letztere fuhr endlich fort:

»Nicht nur, daß Du seit einiger Zeit verschlossen gegen mich geworden bist, Dein ganzes Wesen hat sich verändert, zuweilen habe ich Dich weich und gefühlsinnig gesehen oder kindlich heiter wie sonst niemals – aber dann wieder bist Du ernst und kalt und loderst dennoch dabei mit einer Art Feuerbegeisterung für Dinge auf, für welche ich diese Begeisterung am Allerwenigsten billigen kann.«[47]

»Mutter,« sagte Elisabeth, diesen letzten Punkt gerade festhaltend, um dadurch das Gespräch vielleicht auf eine allgemeinere Bahn zu bringen und sich ein Examen zu ersparen, welches ihr jetzt zu drohen schien, »Du siehst die Dinge in einem andern Lichte, als wir, die Jugend von heute, sie sehen. Wenn Du statt in dieser Zurückgezogenheit mit der Welt fortgelebt hättest, so würde Dir Vieles weder auffallend noch befremdlich vorkommen, das mich in tiefinnerster Seele bewegt. Du hast es oft selbst gesagt, daß die Welt anders geworden sei seit Deiner Jugend, und daß Du deshalb Dich von ihr zurückgezogen, um so Wenig als möglich von diesen Veränderungen gewahr zu werden – das durftet Ihr wohl thun, Du und der Vater, Ihr hattet Eurer Zeit gelebt und ihr genug gethan und sie Euch – aber die nach Euch kommen, müssen nun wieder ihrer Zeit leben und dürfen nicht nach Vergangenem zurücksehen – und so geht es von Geschlecht zu Geschlecht –«

»Elisabeth,« unterbrach sie die Gräfin in zürnendem Ton, »diese Sprache hätte ich nie gewagt gegen meine Mutter zu führen.«

Das Mädchen sah bestürzt vor sich nieder und küßte mit einem Seufzer die Mutterhand – es fühlte eben, daß es nichts Unehrerbietiges gesagt und daß nun nie ein inneres Verstehen mehr möglich sei, wo nicht zwei verschiedene[48] Menschen, sondern zwei verschiedene Zeiten sich einander unvereinbar gegenüberstanden.

Nach einer kleinen Pause begann die Mutter wieder: »Ich meinte, es gebe für Frauen nur ein Gefühl, welches die Charaktere verwandeln, die Herzen aufregen und erheben könne – ich dachte, diese Zeit sei jetzt für Dich gekommen – aber Dein ungleiches Benehmen machte mich wieder irre – nun sah' und seh' ich oft, wie unweiblich Du an männlichen Dingen Interesse findest – und nun weiß ich nicht, was ich denken soll!«

»Nenne nicht unweiblich, Mutter, was –«

»Suche mich nicht wieder von dem abzuleiten, was ich jetzt mit Dir zu besprechen habe. Ich habe mir nun Dein Wesen erklärt: Du siehst Dich geliebt – aber weil Dein Herz kalt und stolz ist, so will es keinem sanften Gefühl Einlaß geben, es wehrt sich dagegen – –«

»Ach Mutter – wie kannst Du so Dein Kind verkennen? Wie seltsam denkst Du von mir!«

»Ich glaube nicht, daß ich mich täusche – Du siehst, wie zärtlich und ergeben Dich Aarens liebt –«

»Aarens?!«

»Wie ihn selbst Deine Kälte nicht ändert, wie geduldig er Deine Launen erträgt – ende dies unwürdige Spiel Deines Uebermuthes! – Aarens warb gestern um Deine[49] Hand – er hat das Jawort Deiner Eltern und heute wird er sich das Deinige holen.«

Elisabeth sprang auf: »Ist das Dein Ernst? Kann das Dein Ernst sein?«

»Welche Frage! Hast Du mich jemals scherzen hören über solche Dinge?«

»Und wie soll ich glauben, daß Aarens, nachdem ich es ihm nie verborgen, so weit dies Zartgefühl und feine Sitten erlauben, daß ich nicht eine einzige Sympathie für ihn habe – daß er eitel und thörigt genug ist, sich einzubilden, ich werde ihm meine Hand geben?«

»Elisabeth – diese Einbildung theilen Deine Eltern!«

»Ich weiß vor Verwunderung nicht, was ich sagen soll – um Liebe kann man doch nur bei dem Herzen werben, das man feix nennen möchte! Und Du und der Vater, Ihr konntet Euch so in mir täuschen, um ein Wort zu geben, das Ihr heute doch wieder zurücknehmen müßt? – Ihr glaubtet, ich liebe ihn, denn sonst –«

»Wir werden Aarens mit Freuden Sohn nennen und Dein verletzter Eigensinn wird sich endlich darüber beruhigen, daß wir so handelten, wie es von jeher bei unsern Ahnen Sitte gewesen – auch meinen Gatten bestimmte mir die Wahl meiner Eltern und ich lernte ihn innig und treu lieben – weil er mir bestimmt war. Das Beispiel einer Mutter heischt Ehrfurcht und Nachahmung[50] von der einzigen Tochter. Ich erwarte das von Dir. Jetzt will ich Dich allein lassen, damit Dir Zeit wird zu überlegen, daß hoffentlich auch Deine neue Zeit den Gehorsam für den Elternwillen nicht zum Mährchen gemacht hat.«

Die Gräfin war aufgestanden und nach der Thüre gegangen, um sich zu entfernen. Sie ward jetzt von Elisabeth zurückgehalten, durch deren aufgeregte Seele jetzt plötzlich ein Gedanke schoß. »Meine Mutter,« sagte sie stumm zu sich selbst, »ist zu mir gekommen, damit ich kindlich mein Herz vor ihr öffne – sie muß meine Liebe zu Jaromir errathen haben und es kränkt sie, daß ich ein Geheimniß vor ihr habe. Und es mir zu entlocken, sprach sie vorhin von Liebe, ich schwieg – und um mich dafür zu bestrafen, um mir zu zeigen, daß dieser Mangel an Vertrauen von mir, mir selbst verderblich werden könne, hat sie das Mährchen von Aarens ersonnen – vielleicht auch hat er wirklich um mich angehalten und sie droht nun mit dem Jawort, wenn meine Weigerung keinen andern Grund angiebt, als den, ihn nicht zu lieben.« –

Und wie Elisabeth dies Alles mit Blitzesschnelle gedacht hatte, warf sie sich um den Hals der Mutter und sagte weich und zärtlich, beinahe fröhlich:

»Vergebung, meine Mutter, für meine Verschlossenheit – aber Du hast das Mittel gefunden, sie zu beendigen, und mein Jaromir wird mir vergeben! Aber wenn[51] Du es wußtest, daß ich ihn liebte, so hättest Du auch denken sollen, daß ein Herz, das einem Jaromir gehört, niemals auch nur an den Vorschlag einer Verbindung mit einem Aarens glauben kann!«

»Mädchen!« rief die Gräfin in äußerster Bestürzung. »Bist Du bei Sinnen? Was denkst Du? Von wem sprichst Du?«

»Mutter, magst Du mir Wahres gesagt haben oder Erdichtetes,« sagte Elisabeth ernst, nun doch wieder in ihrer Voraussetzung irre gemacht, »ich habe Dir auf Beides nur eine Antwort zu geben: vergieb mir, daß ich Dir nicht schon früher die unendliche Seligkeit meines Herzens gestand: Jaromir von Szariny liebt mich – und keine Gewalt der Erde kann mich zwingen, einem andern Mann anzugehören.«

»Szariny! – O, ich hätt' es denken sollen – daß ein poetischer Schwärmer und Schwindler auch mein Kind bethören sollte!«

»Mutter!«

»Und der Graf warb um Deine Hand!«

»Er gestand mir seine Liebe.« –

»Und Du? –

»Was ich ihm erwiderte, weiß ich nicht, nur daß ich ihm bewieß, ich fühle wie er – meine Seligkeit überwältigte mich.«[52]

»Und er warb um Deine Hand?«

Elisabeth schwieg.

»Er warb bei Dir um Deine Hand?

»Mutter, wir lebten selige Stunden im Genuß der Gegenwart.«

»Ich weiß nicht, ob ich staunen, zürnen oder weinen soll – Du hast eine Liebesverbindung im Geheimen mit einem Abenteuerer eingegangen – ohne daß er von Dir oder Deinen Eltern Deine Hand begehrt und zugesagt erhalten hätte?«

»Ich kenne ihn besser als Alle.«

»Hat er Dir erzählt, wie viel Frauen er schon vor Dir betrogen?«

»Mutter!«

»Bist Du kindisch genug zu glauben, Du wärest die erste Liebe eines solchen Menschen?«

»Darnach habe ich nicht zu fragen.«

»Und wenn er frühere Verhältnisse leichtsinnig knüpfte und löste?«

»So hatten ihm die Herzen, die er fand, nicht genügt – und er durfte sie brechen – für ein armes Mädchenherz ist es schon Glück, um einen Jaromir zu verbluten.«

»Welche widerliche Schwärmerei – und dies beneidenswerthe Loos will mein verblendetes Kind sich schaffen!«

Elisabeth brach in Thränen aus und sank erschöpft[53] in das Sopha, weinend sagte sie: »es ist umsonst – wir verstehen einander nicht. Du weißt nicht, wie man liebt – Du hast es niemals gewußt, oder doch vergessen – ich liebe Jaromir – und ich bin stolz genug, es Dir zu wiederholen, daß ich seine Liebe besitze – weiter habe ich Nichts zu sagen – durch dies Geständniß ist schon Alles bestimmt, wie ich handeln werde.«

»Ich werde Deinen Vater von Deinem Geständniß benachrichtigen.«

»Thue es – vielleicht ist er mir ein milder Richter und ein gütiger Vater wie immer.«

Die Gräfin öffnete die Thüre, um hinaus zu gehen. Plötzlich blieb sie zwischen der Thüre stehen und starrte streng vor sich aus.

»In der That, Herr Graf,« sagte sie im Tone strafenden Erstaunens.

Jaromir von Szariny verneigte sich ehrerbietig und ohne Bestürzung.

»Sie verzeihen,« sagte die Gräfin sehr kalt und stolz, »daß ich frage, was Sie in diesen Theil des Schlosses führt?«

»Ich wollte um die Gunst einer Unterredung mit Ihnen bitten – man sagte mir, daß Sie Sich in das Zimmer der Gräfin Elisabeth begaben – aber,« fügte er sich unterbrechend schnell hinzu, »kann ich die Ehre haben,[54] Sie auf Ihr Zimmer zu begleiten, wo ich mich entschuldigen will?«

Elisabeth, als sie diese Stimme hörte, eilte zur Thüre und sagte: »Treten Sie ein, Graf.«

Sie wollte hinzufügen, daß sie kein Geheimniß vor ihrer Mutter habe, aber mit stolzer Scheu hielt sie plötzlich das Wort zurück: »die Zimmer sind ja gleich und das nächste wohl das beste,« setzte sie erzwungen leicht hinzu.

Die Gräfin nahm stumm auf dem Sopha Platz und sah ihn nun mit durchbohrenden Blicken an, als wollte sie sagen: erklären sie mir endlich, mein Herr!

»So hab' ich es gewollt,« sagte Jaromir, »ich hoffte, Elisabeth bei Ihnen zu finden, gnädige Gräfin, als ich vorhin kam, um endlich mein volles Herz auch vor Ihnen zu entlasten – es war nicht so – ich durfte hoffen, Sie hier zu finden, ich eile hierher, und im Augenblick, wo ich die Thüre öffnen will, um zu der großen Kühnheit meiner Bitte auch diese kleinere zu fügen – treten Sie mir entgegen – aber Ihre Tochter ist neben Ihnen! Das giebt mir meinen Muth wieder – nicht ich allein wollte vor Sie hintreten und um Ihr schönstes Kleinod Sie bitten – nur neben Elisabeth finde ich den Muth, Ihnen zu sagen: Segnen Sie mit Ihrem mütterlichen Seegen unsre Liebe.«

Er hatte die Hand der bestürzten Gräfin gefaßt und küßte sie. Elisabeth sank zu ihren Füßen und richtete[55] die überströmenden Augen mit flehenden Blicken zu ihr empor.

Die Gräfin erhob sich kalt – Elisabeth sprang rasch von ihren Knieen empor, schmiegte sich, als wollte sie gleichsam im Liebestrotz ihres stolzen Herzens dem Geliebten eine Genugthuung geben, innig an ihn und verbarg von der Mutter abgewendet ihre weinenden Augen an seiner Brust.

Die Gräfin sagte mit frostiger Höflichkeit: »Herr Graf, Sie verzeihen, Ihr Antrag selbst wie seine Art und Weise haben mich überrascht, so muß ich, bevor ich Ihnen eine Antwort darauf gebe, mit meinem Gemahl Rücksprache nehmen, der anders über die Hand meiner Tochter verfügt hatte.«

Jaromirs Stolz war verletzt – er sagte mit erzwungener Ruhe: »So erlauben Sie mir, Sie zu dem Herrn Grafen zu begleiten.«

»Begleiten Sie mich in das Empfangzimmer – ich werde ihn auf Ihr Erscheinen vorbereiten,« sagte die Gräfin.

Elisabeths Herz schlug stürmisch, jetzt brach sie beinah heftig in die Worte aus: »Nein, Mutter – wo die Herzen so laut schlagen, müssen sie auch einmal ein Recht haben und an kein Ceremoniel sich binden. Komm, Jaromir – Hand in Hand wollen wir zu unserm Vater gehen und ihn bitten: segne Deine Kinder. Wir wollen ihm erzählen[56] von unsern seligen Herzen, wie sie in einander jubelnd zusammenschlagen – und wie sie brechen müssen, das eine getrennt von dem andern. Ich will ihn daran erinnern, wie oft er gesagt hat, er kenne kein andres Glück, als das meine zu schaffen und wie jetzt dazu die Stunde gekommen sei. Er hat mir noch keinen Wunsch verweigert, warum denn gerade diesen einen? Und wie muß ihn die Wahl seiner Tochter ehren, wie stolz muß sie ihn machen! – Komm, mein Jaromir, mein Vater wird uns segnen – und dann meine Mutter auch – Du wirst es ihr vergeben, wenn sie nicht anders über uns entscheiden will als zugleich mit dem Vater!« Sie hing ihren Arm in den seinen, um mit ihm der Mutter zu folgen, die in tiefem Unmuth schweigend vor ihnen herging.

»Elisabeth,« rief Jaromir begeistert – »erst jetzt, wo ich um Deinen Besitz werben will, zeigst Du mir, welche Kühnheit es ist, Dich für ewig sein nennen zu wollen.«

Sie standen an der Thüre zu des Grafen Zimmer – Elisabeth öffnete.[57]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 3, Leipzig 1846, S. 43-58.
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