VI. In der Fabrik

[97] »Laut läutet das Herz der Jungfrau!

Mit ihres Gebetes rauschender Harfe

Begrüßt sie den Aufgang der Liebe,

Des großgeaugten Sterns.«

Karl Beck.


Kammerjunker von Aarens erschien graziöser und eleganter als je auf Schloß Hohenthal. Vor einigen Tagen hatte ihn Elisabeth abweisen lassen – er hoffte sie heute mit ihren Eltern zu treffen und wollte sie durch unwiderstehliche Liebenswürdigkeit dafür bestrafen, daß sie sich bei seinem letzten Besuche unsichtbar gemacht, sie sollte dies bereuen.

Die Gräfin Hohenthal hatte ihn empfangen, er war siegesbewußt eingetreten, sie hieß einen Diener Elisabeth rufen. Die Augen des Kammerjunkers leuchteten, er that einen Griff in die gebrannten Locken, kräuselte mit zwei Fingern den Schnurrbart, warf einen verstohlnen Blick in den Spiegel und lehnte sich selbstgefällig auf dem Sessel[97] zurück. Da kamen Tritte – er wähnte schon Elisabeths seidnes Kleid rauschen zu hören – die Thüre öffnete sich – er sprang auf und warf sich in eine unnachahmliche Stellung – aber statt der Ersehnten trat ein Diener ein und sagte:

»Das gnädige Fräulein ist vor einer Viertelstunde ausgeritten. Sie hat den Portier beauftragt, wenn nach ihr gefragt würde, da im Augenblick ihrer Entfernung die gnädige Frau Gräfin wohl noch Mittagsruhe halte, zu sagen, sie sei nach der Fabrik geritten und werde vielleicht erst in ein paar Stunden wiederkommen.«

Aarens machte ein bestürztes und einfältiges Gesicht, er hatte bei dieser Enttäuschung alle Fassung verloren. Die Gräfin rang mühsam danach, die ihrige zu erhalten.

»Ist meine Tochter allein ausgeritten?« fragte sie.

»Der Reitknecht hat sie begleitet – weiter war Niemand bei ihr.«

»Es ist gut.«

Der Diener war entlassen.

»Liegt die Fabrik besonders schön, daß Ihre gnädige Fräulein Tochter dahin Ausflüge macht, noch dazu einen Ausflug von einigen Stunden?«

»Ich war niemals dort,« sagte die Gräfin ausweichend, »mir ist alles Fabrikwesen zuwider, ich habe eine, glaub ich, angeborene Abneigung dagegen.«[98]

»Diese theile ich vollkommen. Sowohl der Lärm dieser Maschinen, wie die Rohheit Aller, welche damit umgeben, ist das Abschreckendste, was ich kenne. Und nun besonders dieser Herr Felchner! Man zeigte mir ihm neulich im Cursaal. Er kam mit vier Pferden angefahren wie ein Fürst – und aus dem Staatswagen stieg das kleine, zusammengedörrte Männchen, in dem schäbigsten grauen Anzuge, den man sich denken kann. Sein Benehmen war auch von der größten Unhöflichkeit, es war, als sage er mit jedem Blick: ich bin hier der Erste, denn ich bin der Reichste. Nein! Es giebt nichts Entsetzlichers, als diese Geldmenschen, diese Industriekönige.«

»Gewiß –« sagte die Gräfin und hätte das Thema gern auf einen andern Gegenstand gelenkt, aber Aarens war einmal im Zuge und fuhr in gleichem Tone fort:

»Von seiner Tochter erzählt man die fabelhaftesten Dinge, ich selbst habe sie noch nicht gesehen, es soll ein niedliches Kind sein, welches auch fürstlich erzogen worden und erst seit Kurzem hier ist. Sie soll sich aus Ermangelung anderer Anbeter die hübschesten Fabrikarbeiter zu ihrem Umgang wählen – nicht etwa die Factoren, Buchhalter und Commis, die ihr vielleicht ebenbürtig sind, sondern Menschen der ausgeworfensten Classe, die um den niedrigsten Tagelohn arbeiten – in der That, das ist ein[99] göttlicher Stoff zu einem Lustspiel – Seirbe sollte ihn benutzen.«

»Das ist ja unmöglich,« sagte die Gräfin, »ein Mädchen von so guter Erziehung kann niemals so weit herabsteigen, und wenn sie auch von bürgerlichem Herkommen und die Tochter eines gemeinen Vaters ist.«

»Eben darin liegt der größte Spaß – der Vater ist in Verzweiflung über diese Aufführung seiner Tochter und bewacht sie deshalb streng – aber sie weiß ihn zu hintergehen. Wenn man nicht fürchten müßte, es wäre zu widerwärtig, müßte es eigentlich interessant sein, dies Mädchen einmal zu sehn.«

Die Gräfin litt während dieser Rede unbeschreiblich, sie wollte es nicht zugestehen, daß dies Mädchen Elisabeths Freundin sei, und war doch gewiß, daß binnen Kurzem ein Zufall oder Elisabeth selbst es dem Kammerjunker verrathen würde. Die Gräfin konnte Paulinen nicht übel wollen, sie konnte nicht glauben, was Aarens von ihr erzählte, aber sie sah ungern die Freundschaft Elisabeth's mit diesem bürgerlichen Mädchen, welches die Tochter eines Mannes war, der ihr wie der ärgste Feind ihres Hauses erschien. Aber sie wußte, daß in dieser Sache ihren Vorstellungen Elisabeth kein Gehör gab, und dafür hatte ihr ja nun eben der gegenwärtige Augenblick einen Beweis geliefert. Der Umgang der Freundinnen hatte ihr[100] abgebrochen geschienen seit den Differenzen zwischen dem Grafen und dem Fabrikanten – und jetzt wußte sie die Tochter auf dem Wege nach der Fabrik!

Elisabeth war noch keine Viertelstunde fort, wie sie dem Portier aufgetragen hatte zu sagen, als man nach ihr schickte, sondern erst wenig Minuten. Sie war schon entschlossen gewesen auszureiten, um Paulinen zu sehen, denn das Bedürfniß nach freundschaftlicher Mittheilung ließ sie nicht länger zögern – aber als sie Aarens ankommen sah, ließ sie sogleich ihr Pferd vorführen und entfernte sich. Sie wußte selbst nicht warum, aber Aarens war ihr nicht nur langweilig, sondern sogar widerlich und dies beinahe um so mehr, als ihre Eltern von ihm meist Abend's sprachen und seine Gesellschaft gern hatten.

Elisabeth war der Fabrik schon ziemlich nahe, und die Ungeduld, ihr Ziel bald zu erreichen, ließ sie ihr Pferd zur Eile antreiben, als sie einen einsamen Wanderer des Wegs kommen sah, sie erkannte ihn und ließ plötzlich ihr Thier langsamer gehn. Es war Jaromir. Er hatte sie längst erkannt, er stand still und grüßte. Ein seelenvoller, inniger Blick, ein frohes Lächeln schöner Ueberraschung begleiteten den üblichen Gruß. Aber er wagte nicht sie anzureden. Sie warf ihm einen gleich frohen, innigen Gruß zu und ritt langsam vorüber. Nach einer Weile kehrte er um und folgte ihr, das Auge fest auf die[101] schöne Gestalt der Reiterin gerichtet. Auf dem kleinen Hügel blieb er stehen, von dem aus man die nahe tiefer liegende Fabrik übersehen konnte. Er sah, wie Elisabeth ihr Pferd vor dem Hauptgebäude anhielt, wie ein junges Mädchen heraustrat und der Absteigenden um den Hals fiel, dann das schöne Thier, das sie hergetragen, schmeichelnd mit der kleinen Hand klopfte. Er besann sich, daß dies dasselbe Mädchen sei, mit welchem er hier Elisabeth zuerst wiedergesehen, und welches ihm Waldow als die Tochter des Fabrikanten bezeichnet hatte. So freute sich jetzt Jaromir, als er in Elisabeth eine neue ungewöhnliche Eigenschaft bei einem Mädchen ihres Standes und ihrer Erziehung entdeckte, sie fröhnte also keinem Vorurtheil, nach welchen: sie ihr Vertrauen abmaß, wie es das Herkommen wollte!

Es war gerade vier Uhr und die Glocke läutete zu der Feierstunde des sogenannten Halbabend. Die Arbeiter ergingen sich im Freien. Es fiel Jaromir ein, daß er zu ihnen hinabgehen wolle, ob man ihm vielleicht eine oder die andere interessante Maschine zeigen, ob er vielleicht eine oder die andere Notiz von Wichtigkeit über industrielle Einrichtungen und Erfindungen erhalten könne. Er ging also hinunter und auf die vier ersten Arbeiter zu, welche ihm begegneten. Es war Franz neben August; Wilhelm neben Anton.[102]

August stieß Franz an und sagte: »Sieh einmal, das ist ein schönes Herrchen – wer weiß, am Ende ein Freier für unser Mamsellchen.«

Franz warf einen prüfenden Blick auf Jaromir und sagte ernst: »Ja, er hat Etwas in seinem Gang und seinem Gesicht, was die andern vornehmen Leute nicht haben – er sieht vornehmer aus als sie Alle – aber das macht bei ihm nicht nur der Anzug – es ist, als käm' es von innen heraus, als hab' er einen vornehmen Geist.«

»Ich mögte wohl wissen, wie unser eins aussähe in solch' feinem Rock,« meinte August, »ich glaube närrisch genug, und doch, wenn wir Geld hätten, könnten wir uns eben so anziehen, und wenn wir nicht zu arbeiten brauchten und den ganzen Tag faullenzen könnten, hätten wir auch solche Hände – sieh' einmal, die sind so weiß, wie sie bei uns kein Mädchen hat, nur etwa Mamsell Paulinchen.«

Der so Gemusterte trat jetzt zu den Arbeitern und sagte leicht:

»Guten Tag, meine Herren.«

Er hatte sich diese Redensart einmal angewöhnt, seitdem das Jahr 1830 nicht mehr hatte dulden wollen, daß der Aristokrat den Bürger anders als Herr anrede, und da er recht wohl fühlte, wie ein Duzend Jahre später mit der Zahl der Jahre auch die Zahl der Fordernden[103] sich ins Ungeheure vermehren mußte, so dehnte er seine Redensart »meine Herren« von den Bürgern auch gern auf die Proletarier aus, und in dieser unwillkürlichen Gewöhnung lag ein viel tieferer Sinn, als er selbst sich träumen ließ. Er sagte also:

»Guten Tag, meine Herren.«

Über die Gesichter der so Begrüßten zog es wie ein augenblicklicher Sonnenschein, so erfreuen kann ein armseliges, gedankenlos hingesprochenes Wort. Aber Wilhelms Gesicht verfinsterte sich noch schneller, als eine schwarze Gewitterwolke einen Sonnenblick vernichtet, denn auch so verwunden kann ein armseliges Wort, und indes die anderen höflich ihre schlechten Mützen abnahmen, antwortete er düster:

»Wir sind keine Herren, wir sind arme Arbeiter.«

»Sind Sie ihrer viele hier?« fragte Jaromir.

»Ein paar Hundert«, antwortete Anton und spitzte die Ohren, »Weiber und Kinder nicht gerechnet.«[104]

Eine Schar blasser, in Lumpen gehüllter Kinder hatte sich müde auf einen sonnigen Platz gelegt, einzelne von ihnen kauten an harten Brotrinden, andere warfen auf diese neidische Blicke. Jaromir warf einen mitleidigen Blick auf diese armen Geschöpfe und sagte:

»Diese Kleinen sehen sehr müde aus.«

»Ist wohl ein Wunder!« versetzte Wilhelm bitter. »Sie müssen den ganzen Tag beschwerliche Arbeiten verrichten so gut wie unsereiner, drum sind sie froh, wenn sie ein paar Minuten in der Sonne ausruhen können.«

»Den ganzen Tag? Gehen sie denn in keine Schule?« rief Jaromir verwundert.

»Sonnabends nachmittags, wo wir um vier Uhr Feierabend haben« sagte August, »brauchen sie gar nicht zu arbeiten, da kommt ein Lehrer aus der Stadt heraus, ein abgedankter Unteroffizier, und prügelt sie, weil sie wieder vergessen haben, was er ihnen vor acht Tagen vorher gesagt – das heißt, sie in die Schule schicken.«

Jaromir flüsterte für sich: »Mein Gott! Auch in Deutschland?«

August fuhr fort: »Die Faktoren versichern uns, daß sie da genug lernen, denn was sie für's Leben brauchen, lernen sie ja eben bei der Fabrikarbeit. Zu lesen und zu schreiben braucht ein Mensch nicht, der es doch nie weiterbringen kann, als bis zu einem armen Fabrikarbeiter.«

Jaromir warf einige kleine Münzen unter die Kinder, welche mit tierischem Geschrei darüber herfielen, die Geldstücke einander wieder gegenseitig wegzureißen suchten, sich darum prügelten und herumzerrten, es war ein trauriges[105] Schauspiel! Ein kleiner Knabe stellte sich schreiend vor Jaromir hin und jammerte, indem er die leeren Hände zeigte:

»Ich hatte ein großes, rothes Stück, die Andern haben es mir wieder weggerissen.«

»Schäme Dich!« sagte Franz. »Du weißt, daß Du nicht betteln sollst.« Er fuhr fort, während Jaromir noch ein kleines Geldstück für das Kind suchte. »Herr, nun werden Sie gewiß sagen, daß die Fabrikkinder eine böse Brut sind – so ist's auch, sie fluchen wie alte Sünder, sie führen häßliche Reden und machen sich freche Späße, sie betteln und stehlen, sie betrügen und balgen sich untereinander – und wenn diese Kinder groß werden, so wachsen ihre Laster mit – Herr! Sie haben Mitleid für diese Elenden, ich sehe es Ihnen an, sonst hätten Sie sie auch nicht beschenkt – d'rum sag' ich's Ihnen: was können diese Kinder dafür, daß man sie wild aufwachsen läßt und zu Verbrechern erzieht?«

In diesem Augenblicke mahnte die heftig gezogene Glocke wieder zur Arbeit – Alles lief wieder in die Fabrikgebäude. »Wir müssen an die Arbeit,« sagte Franz zu Jaromir, der ihn staunend angesehen hatte, während er sprach, »wollten Sie etwa zu Herrn Felchner – dort ist das Wohnhaus.«

Jaromir folgte Franz, der mit den Andern schnell zur Arbeit laufen wollte. Er sagte: »Ich mögte mich wohl ein Wenig umsehen und auch noch länger mit Ihnen reden, kann ich Ihnen nicht folgen?«[106]

Franz schüttelte mit dem Kopf. »Das geht nicht, umsehen dürfen Sie sich wohl, aber nicht gleich so mit einem Arbeiter hereingehen, und reden können wir eben auch nicht viel bei der Arbeit, das würde übel vermerkt werden – dort kommt gerade der junge Herr Felchner selbst, der kann Ihnen ja Alles am Besten zeigen.«

»Die Fabrikherrn beschreiben die Sachen wohl anders als die Arbeiter –« sagte Jaromir, »doch ich danke für Ihre Gefälligkeit –« damit drückte er Franz einen Thaler in die Hand und wandte sich schnell nach Georg Felchner, welcher unweit von ihm stehen geblieben war.

»Ich danke, Herr,« sagte Franz, »das kommt in unsere gemeinschaftliche Casse, und ich danke Ihnen im Namen aller meiner Kameraden.« Damit ging er eilends, wohin ihn die Glocke rief.

Jaromir wandte sich an Georg: »Mein Herr, ich bin fremd hier – es würde mir interessant sein, wenn ich mich in dieser Fabrik umsehen dürfte – man hat mir Sie als den Besitzer bezeichnet und ich frage deshalb bei Ihnen um Erlaubniß an?«

Georg sah gerade fast noch mürrischer als gewöhnlich aus, doch bemühte er sich ziemlich höflich zu sagen: »Ich bin eben im Begriff, in dies Gebäude rechts zu den neuen Dampfmaschinen zu gehen, welche wir kürzlich haben aus England kommen lassen, wenn Sie mich begleiten wollen,[107] so stehe ich gern zu Diensten, Ihnen die Sache zu erklären. – Zwar Sie sprechen wohl auch Englisch?«

»Allerdings.«

»Nun dann können Sie es Sich auch von dem Engländer selbst erklären lassen, welcher dort die Oberaufsicht hat und den wir uns mit den Maschinen zugleich haben kommen lassen, er spricht nur ganz schlecht Deutsch, außer mir und meiner Schwester kann Niemand hier Englisch, und so macht er uns zuweilen viel zu schaffen. Es entstehen immer Mißverständnisse zwischen ihm und den Leuten, oder diese lachen ihn gar aus.«

»Es muß lästig sein, in einer solchen Fabrik einen Ausländer im Dienst zu haben.«

»Bah – wir sind froh, daß wir ihn haben.«

In diesem Augenblick kam ein Factor auf Georg zu und sagte aufgebracht: »Der alte Andreas kam wieder halb betrunken zur Arbeit und stieß wider eine Walze, daß wir Mühe genug hatten, den größten Schaden zu verhindern – ganz so ist es aber nicht abgegangen.«

»So soll man ihm, dem Andreas, am Lohn abziehen,« versetzte Georg ärgerlich.

»Der Schaden ist größer.«

»Desto schlimmer – auf seine Kosten kommt man einmal bei diesem Volke niemals, es soll nur eine Warnung sein, daß er sich ein ander Mal besser in Acht[108] nimmt.« Während der Factor sich entfernte, fuhr Georg fort: »Nichts als Aerger und Unkosten bei diesem rohen Volke; das dann noch immer thut, als wären schlechte Zeiten, diese Leute verdienen wahrhaftig ihr Geld mit Sünden.«

Während dieser hingeworfenen Aeußerungen waren sie in das Innere der Fabrik getreten.

Georg gab Jaromir in der Kürze die nöthigsten Erläuterungen, die sich mehr auf die Einrichtungen einzelner Maschinen im Besondern, als auf diese der Fabrik im Allgemeinen bezogen. Jaromir schien zwar sehr aufmerksam zu sein, lieh diesen Worten aber doch nur ein halbes Ohr; seine Blicke ließ er öfter über die jammervollen kleinen Gestalten und blöden Gesichter der Kinder gleiten, oder über die mürrischen und thierischen Züge der ältern Fabrikarbeiter, oder über die gemeinen und böswilligen Erscheinungen der Frauen; seine Gedanken aber weilten noch in ganz anderem Kreise. Elisabeth war bei Georgs Schwester – er war ihr so nahe und sollte sie nicht sehen – sie hatten denselben Weg zurückzulegen – und er sollte sie allein lassen?

Er sagte jetzt zu Georg: »Sie haben Sich so bereitwillig für einen Fremden bemüht, nehmen Sie dafür meinen verbindlichsten Dank, und wenn Sie einmal den[109] Namen Jaromir Szarinh hören, so erinnern Sie Sich meiner.«

Georg machte eine stumme Verbeugung und sagte dann: »Sie sind wohl ein Gast der neuen Wasserheilanstalt?«

»Allerdings; die romantische Umgebung hat mich einige Zeit hierher in die freie Natur gelockt.«

»Da haben Sie aber einen weiten Weg gemacht, Sie werden das bei der Rückkehr empfinden, wenn Sie nicht erst eine Weile bei uns ausruhen wollen.«

»Sie werden mich sehr verbinden, wenn Sie mir dies erlauben wollen, allein ich muß fürchten, Sie in Ihren Geschäften zu stören.«

»Erlauben Sie mir, Sie in das Wohnhaus zu begleiten, und entschuldigen Sie dann, wenn ich Sie wieder auf einige Augenblicke verlasse.«

Man trat in das Haus. »Wo ist mein Vater?« fragte Georg eine Magd, die in der Hausflur beschäftigt war.

Sie antwortete: »Er hat sich in das Comptoir mit zwei Rechnungsführern eingeschlossen und mir den Auftrag gegeben, Jedermann zu sagen, er sei nicht zu Hause, kein Mensch dürfe ihn vor dem Abend stören.«

»Sie entschuldigen,« sagte Georg zu dem Grafen, ohne durch die allzunaive Antwort der Magd im Mindesten[110] in Verlegenheit gesetzt zu werden, »das ist so Brauch in unserm Geschäftsleben, es läßt uns wenig Zeit für andre, Dinge und für andre Menschen.« Dann fragte er die Magd wieder: »Ist meine Schwester in ihrem Zimmer oder unten?«

»Sie wird Besuch haben,« antwortete die Magd, »und sagte mir, ich solle sie nicht unnöthiger Weise rufen.«

Jaromir lachte, diese Art und Weise Jemand zu empfangen, der einen Besuch machen will, kam ihm sehr spashaft vor, Georg aber fuhr hitzig auf: »So werde ich wohl selbst Pauline fragen müssen, ob es ihr gefallen wird, meine Anordnungen für nöthig oder unnöthig zu halten.«

Kaum hatte er dies ganz ausgesprochen, als Pauline an Elisabeths Arm die Treppe herab kam. Die Mädchen waren im Begriff, in die Gartenlaube zu gehen. Man ward einander vorgestellt, und ging dann gemeinschaftlich in den Garten und nahm da in der Laube Platz. Nach wenig Augenblicken entfernte sich Georg.

Elisabeth und Pauline erzählten Jaromir wechselsweise, wie sie zusammen erzogen und Freundinnen geworden wären und sich nun unbeschreiblich glücklich fühlten, gerade in dieser Einsamkeit einander so nahe zu sein. Jaromir hörte mit Vergnügen zu und warf manchen innigen Blick auf Elisabeths leuchtende Augen.[111]

Eine glückliche Stunde zog sich über die drei Menschen hin, eine Stunde, die nach ihren besten Momenten sich nicht beschreiben, sondern nur fühlen läßt. Ein Sommerabend still und heiter, an dem die Heimchen flüsternde Weisen unter wallenden Grashalmen zirpen, wo die Abendblumen ihre geheimnißvollen Blüthenkelche scheu und vorsichtig öffnen, Düfte wunderbar aushauchen, große goldne Augensterne allmälig aufschlagend, wo Schmetterlinge darüber hinziehen, in mystischen Kreisen von Blüthe zu Blüthe tanzend. Und wieder über den Schmetterlingen empor schwingen sich freudetrunkene Lerchen, schmettern ihre Lieder hoch in die Lüfte, lassen ihre lieblichen Töne wieder leise fallen und wieder klingen zu den lauschenden Feldern und Gärten. – Da ist es, als richteten sich alle Halme auf und lauschten, als fragten alle Blumen mit emporgeschlagenen Augen zum Himmel auf, woher die wunderreichen Lieder tönten – und auch das weichgewordene Menschengemüth lauscht empor und wird wonnetrunken und still – und doch ist nichts Aeußerliches geschehen, nichts Neues, nichts Unerlebtes.

So war es auch jetzt den drei Menschen in der Laube. Pauline fühlte sich froh und verstanden, deßhalb zufrieden und heimisch, zum ersten Mal so recht heimisch in der Heimath, in der sie hinter lauter bekannten Gesichtern lauter fremde Seelen finden mußte. Jaromir und[112] Elisabeth waren glücklich, ein ganzer Frühling blühte und sang in ihren Herzen und eine lachende Sonne strahlte wärmend darein. Ihre Worte waren aber nicht anders als das Heimchenzirpen, das Duften und Blühen der Abendblumen, das farbige Spielen der Schmetterlinge, das Singen der Vögel rings um sie – nicht außerordentlicher, nicht neuer, nicht unerlebter. So wie diese Heimchen, Blumen, Schmetterlinge, Vögel schon an Tausend Abenden zu gleicher Naturfeier sich vereinigt, so wie es die drei Menschen schon oft selbst mit angesehen und erlebt hatten, so waren sie auch jetzt sich bewußt, noch niemals eine stillglücklichere Stunde verlebt zu haben, als diese, und doch war ihre Unterhaltung einfach und konnte alltäglich klingen und verrieth Nichts von der Herzen tiefinnerster Bewegung, außer, daß zuweilen das Feuer poetischer Beredtsamkeit von Jaromir's Lippen flammte, daß seine Worte den Klängen der Lerche selber glichen, welche sich in das obere Himmelblau stürzte, indem die scheidende Sonne noch ihre Flügel vergoldete.

Es fiel Elisabeth schwer, an den Aufbruch zu denken; – Jaromir blieb so lange unter dem Vorwande, daß er Georgs Rückkunft erwarten wolle; aber als jetzt Elisabeth aufstand, von dem hereindämmernden Abend erinnert, fragte er doch: Ob er sie begleiten dürfe?

»Mein Pferd habe ich weggeschickt,« sagte sie, »weil[113] ich den kleinen Rückweg zu Fuß machen wollte, und da ich noch am Tage zurückzukommen dachte und ein nachfolgender Diener mir lästig ist, hab' ich auch diesen nicht bestellt, wollte vielmehr um Paulinens Begleitung bis an den Park bitten – in unserm Park geh' ich ja doch allabendlich allein.«

»Nun,« sagte Pauline, »so brechen wir zusammen auf.«

Die Mädchen baten nun Jaromir, zu warten, bis sie ihre Hüte und Hüllen aus dem oberen Zimmer geholt, und entfernten sich deßhalb. So eben ward Feierabend geläutet. Jaromir trat aus dem Garten auf den freien Platz vor dem Hause.

Wilhelm und Anton kamen vorüber, sie stießen einander an, wie sie ihn gewahr wurden, und Anton sagte: »Er ist immer noch da und treibt sich hier ganz allein herum. Glaubst Du nicht, daß das Etwas zu bedeuten hat? Und wer es wüßte, ob Gutes oder Schlimmes?«

»Nun, was könnte denn noch Schlimmes kommen? Anton, ich hoffe jetzt: Es giebt Leute, welche sich unsers Elendes erbarmen wollen, welche es gut mit uns meinen; gelehrte Leute, welche schreiben und was Rechtes gelernt haben, die sagen es gerade heraus, daß man uns Unrecht thut, und solche Leute müssen jetzt in unsrer Nähe sein – ich weiß es gewiß – wer weiß, ob er nicht Einer[114] von ihnen ist – er schien doch freundlich zu sein.«

»Und nun ist er noch immer hier,« sagte Anton, »am Ende hat er den Feierabend abgewartet, um noch mit uns zu sprechen.«

In diesem Augenblick kamen Pauline und Elisabeth aus dem Haus und Jaromir ging mit freundlicher Anrede auf sie zu.

Die Arbeiter entfernten sich kopfschüttelnd, zusammen murmelnd.

In heitrer Unterhaltung wie vorher war die Stelle am Eingang des Parkes bald erreicht, an welcher Pauline von Jaromir und Elisabeth scheiden wollte. Die Freundinnen hielten sich eben umschlungen, als ein Wagen vorüber fuhr. Es war ein leichter zurückgeschlagener Phaeton, ein einzelner Herr saß darin – man würde weder ihn noch seine Lorgnette bemerkt haben, wenn er nicht ein hämisches: »Guten Abend –« aus dem Wagen der Gruppe zugerufen hätte.

Es war Kammerjunker von Aarens, welcher mit diesem Gruß, und indem er langsamer als erst vorüber fuhr, die Erkannten niederzuschmettern glaubte. Aber sowohl Elisabeth als Jaromir dankten unbefangen in gewohnter Art und Weise.

»Wer war denn die Dame, welche jetzt das Paar[115] allein läßt?« fragte Aarens auf Paulinen deutend, welche den Rückweg antrat, seinen Kutscher.

»Die Tochter des Fabrikanten Felchner?« antwortete dieser.

»Was – Kerl, ist das wahr?« rief Aarens außer sich.

»Bestimmt, ich kenne sie genau –« versetzte der Kutscher.

Aarens schlug ein Gelächter auf und rief ein Mal über das andere: »Das ist göttlich, himmlisch – unvergleichlich!«

Unterdeß ging Jaromir an Elisabeths Seite dem Schlosse zu.

Sie sprachen Wenig – ihre Herzen schlugen zu laut und doch auch zu befriedigt, als daß sie hätten sprechen können. Sie gingen langsam, aber das Schloßthor war bald erreicht, an dem sie sich trennten.

Wie sie einander guten Abend boten, fragte er nun leise, ob sie morgen Nachmittag zu Hause sei, und sie antwortete ein freudiges, leises: »Ja.«

Später traf Anton wieder mit Franz zusammen. »Was nur der fremde Herr so lang in der Fabrik wollte?« fragte er.

»Ich glaube wohl, daß Du in Allen Spione siehst, seitdem Du mit einem Stiefel zusammen gewesen.«

»Höre,« sagte Anton, »hat Dich das Mährchen auch[116] angesteckt, Stiefel soll hier sein? Der, den August dafür hält, hat dunkle Haare und keinen Bart – und Stiefel hat rothes Haar und langen Bart um's ganze Kinn.«

Später gefragt, mußte August dies selbst zugeben, man lachte ihn aus und ermahnte ihn, ein anderes Mal besser Acht zu geben – Stiefel werde nicht wagen, je wieder in ihre Nähe zu kommen, versicherte Anton.[117]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 2, Leipzig 1846, S. 97-118.
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