IX. Gesellschaft auf Schloß Hohenthal

[159] »O heilge Stunde, wo in Gottes Strahl

Zwei Menschenherzen ineinander schauen.«

Betty Paoli.


Bei dem letzten Besuch des Kammerjunkers von Aarens auf Schloß Hohenthal hatte ihn die Gräfin, da er auch ihren Mann so wenig als Elisabeth getroffen, für den andern Tag zum Mittag geladen.

Wie an jenem Tag Elisabeth zurückgekommen, hatte ihre Mutter ihr noch ein Mal die ernstlichsten Vorstellungen gemacht, wie unpassend ihr Umgang mit dem Mädchen eines Mannes sei, welcher ein Feind ihres Hauses wäre, weil sie diesen Umgang selbst verwerfe, indem seine Tochter nicht mehr das Schloß besuchen dürfe, mit einem Mädchen, dem die ganze Umgegend gemeine und unpassende Handlungsweisen vorwerfe und es dadurch in den übelsten Ruf bringe.[159]

Weiter hatte Elisabeth die Mutter nicht sprechen lassen, sie hatte Aufschluß und Rechenschaft verlangt, wer sie über Pauline so ganz umgestimmt, und endlich – da wenigstens früher die letzten Ansichten die Gräfin nicht hatte äußern können, da sie gewußt, daß Aarens dagewesen – diesen errathen. Dadurch wuchs ihr vorgefaßter Widerwille gegen ihn bis zum heftigen Unwillen.

Sie betheuerte ihrer Mutter, daß sie Paulinen nur um so mehr liebe, als fade Gecken sie zu verkleinern strebten. Zuletzt fügte sie bei, daß sie Graf Szariny in der Fabrik getroffen.

Als Aarens kam, so war Elisabeth ihm gegenüber stumm, streng und ernst.

Eine seiner ersten Bemerkungen war natürlich die, daß er unendlich bedauerte, sie gestern nicht getroffen zu haben, daß aber sein widriges Schicksal ihn doch wieder in Etwas dadurch habe aussöhnen wollen, daß er sie noch am Abend wenigstens gesehen – mit dem Grafen Szariny und einem kleinen, unbekannten Mädchen.

»Mit meiner liebsten Freundin, Pauline Felchner, welche ich besuchte – wie Ihnen wohl meine Mutter gesagt hat –« erwiderte Elisabeth mit stolzem Tone.

»Und wohin Sie Graf Szariny begleitete?«

»Von wo er mich zurückbegleitete, da er dort einen Besuch gemacht hatte und ich den Weg zu Fuß zurücklegte.«[160] Aarens wußte auf diese Strenge und Unbefangenheit ihr lange Nichts zu erwidern, bis er sich von der Verwunderung über die letztere ein Wenig erholt, und dazu bedurfte es bei ihm einiger Zeit. Er knüpfte also ein unbedeutendes Gespräch mit der Gräfin an, das nachher allgemein ward. Während dem überzeugte er sich, daß er durch einen beleidigenden und spöttelnden Ton gegen Elisabeth Nichts ausrichte, und er suchte daher so liebenswürdig, sanft und zärtlich als möglich zu erscheinen. Sie blieb ihm gegenüber unverändert.

Das Diner war vorüber, die späteren Nachmittagstunden rückten heran. Elisabeth hatte es zu arrangiren gewußt, daß man den Kaffee in einem hochgelegenen Pavillon des Gartens einnahm, von dem aus man einen Theil der nach dem Schlosse führenden Straße übersehen konnte. Zuweilen warf sie dorthin einen spähenden Blick – und jetzt schlug ihr Herz höher und sie bemühte sich ein fröhlich aufsteigendes Roth der Wangen zu unterdrücken – denn sie sah aufwirbelnden Staub – bei einem zweiten Blick zwei Reiter, und bei einem dritten erkannte sie Jaromir auf seinem Rappen – sie zerpflückte ein paar Grashalme und hatte Aarens Frage überhört: ob sie die Morgenoder Abendpromenade schöner und genußreicher finde?

Er mußte ihr die Frage noch ein Mal wiederholen und dann sagte sie sinnend: »Die Morgen sind schön,[161] denn da kommt man jugendfrisch aus den Armen des Schlafs und der Träume, die ganze Schöpfung ist wie neu geboren und wir sind es selbst mit ihr – man weiß noch Nichts von Zwang, man lebt noch halb im Traume fort und schämt sich nicht, wahr und unverstellt zu sein.« Sie dachte, als sie dies sagte, an den Morgen ihres letzten Abschiedes von Gustav Thalheim und ihrer ersten Rede mit Jaromir – aber sie dachte zugleich an den gestrigen Abend, als sie weiter hinzusetzte: »Aber die Abende sind auch schön – nur in ganz andrer Weise; da zieht ein wonniges Träumen durch die ganze Natur, und die Natur theilt es der Menschenseele mit, und da drinnen haust es sich ein in dem klopfenden Herzen, in dem dann zugleich wie im Freien alle Nachtigallen laut zu schlagen anfangen und alle Nektargefäße verhüllender Blüthen sich öffnen.«

Ihre Gedanken weilten bei Jaromir, den sie so eben gesehen, es war ihr, als wenn sie schon mit ihm spräche, und jetzt hielt sie plötzlich inne, als sie sich besann, daß Aarens es war, der ihr gegenüber stand und zu dem sie in solcher Weise geredet.

Aarens, obwohl er sich über diese Sprache verwunderte, fand doch, daß er Elisabeth nie schöner und hinreißender gesehen, als in diesem Augenblick – und er war eitel genug, sich diese plötzliche Gehobenheit ihres ganzen Wesens zu seinem Gunsten auszulegen.[162]

Elisabeth entfernte sich auf einige Augenblicke bis zur nächstgelegenen Laube, sie war seltsam bewegt – ihr war, als müsse sie einen freien, unbeobachteten Blick zum Himmel emporschicken, weil sie jetzt sich im Innersten so wunderbar selig durchschüttert fühlte, weil ihr war, als strahle der blaue Himmel gerade in ihr Herz und wohne in diesem.

Auch dies augenblickliche Entfernen und die ruhige Freudigkeit, welche, als sie zurückkam, auf ihrem Gesicht thronte, legte Aarens zu seinen Gunsten aus, und er wollte eben wieder ein empfindsames Gespräch mit ihr beginnen, als ein voraneilender Diener: Graf Szariny und Herr von Waldow meldete, welche ihm langsam folgten. Aarens hatte große Lust, mit dem Fuße zu stampfen, da er dies aber als Mensch von gutem Ton unmöglich konnte, biß er sich die Lippe beinah blutig und wünschte nur stumm, aber von Grund der Seele aus, die lästigen Ankömmlinge in's Pfefferland, in die Hölle, oder zu allen Teufeln; nur so weit als möglich weg. Diese christlichen Wünsche halfen ihm aber leider nur sehr Wenig, denn statt sich zu entfernen kamen, die Beiden immer näher und ein innigerer, zwei Menschen beglückenderer Blick ward noch nie gewechselt, als der erste, mit welchem sich Jaromir und Elisabeth begrüßten. Zum Glück war Aarens noch zu sehr verblendet von der ersten Wuth über die Ankunft[163] der neuen Gäste, als daß er hätte diesen Blick bemerken sollen.

Aber wenn auch dieser erste Blick ihm entging, so sah er doch bald, daß zwischen diesen Beiden ein geheimes, süßes Einverständniß walten müsse, das ihm unerträglich war. Er sann nach, wie er dies stören könne, und war während des ersten Gesprächs ziemlich schweigsam.

Nachher sagte er leicht und halblaut zu Jaromir, aber doch laut genug, daß es wie zufällig Elisabeth hören konnte. »Nicht wahr, ein niedliches Kind die kleine Felchner? Ich sah Sie gestern mit ihr. – Sie stehen bei ihr in großer Gunst, wie ich höre?«

Jaromir sagte unbefangen aber ernst: »Sollten Sie das Fräulein auch kennen?«

»Nun, Sie brauchen nicht gleich eifersüchtig zu sein,« sagte in demselben leisen Tone wie vorher, doch zugleich ironisch lachend, Aarens. »Ich kenne Sie nur von Ansehen und habe ihr noch keinen Besuch gemacht – aber man bemerkt unser Flüstern –« und rasch gegen die Gesellschaft gewendet, fuhr er laut fort: »Ich erging mich eben im Lobe von des Grafen Kunstgeschmack, der sich in allen Dingen, welche er auswählt und anordnet, bewährt – auch in der Wahl seines Pferdes und Reitzeuges.«

Da ein Gespräch von Pferden beginnen konnte, war Waldow ganz in seiner Sphäre; er richtete deshalb sogleich[164] mehrere Fragen an Jaromir, welche dessen Pferde betrafen, so daß dieser ihm antworten mußte, während er gern Aarens, dessen Reden und Benehmen ihm befremden mußte, etwas Zurechtweisendes hätte erwidern mögen. Der Graf Hohenthal selbst nahm an dem Pferdegespräch lebhaften Antheil, ließ es nicht sogleich wieder sinken, und so kam es, daß dies Mal Aarens ungestraft davon kam. Von den Pferden kam das Gespräch auf Thierquälerei, der alte Graf legte in diesem Punkt das größte Zartgefühl und den jugendlichsten Enthusiasmus für alle diesen Punkt betreffende Vereine an den Tag – und um nur die Unterhaltung endlich von dem lieben Vieh hinwegzubringen, ging Jaromir von der Thierquälerei zur Menschenquälerei über.

»Es ist wahr, den Thieren wird oft eher geholfen, als den Menschen – so will's die moderne Barmherzigkeit.«

»Natürlich, weil die Menschen sich selbst helfen können –« sagte Aarens.

»Das sagen Sie – nicht ich,« versetzte Jaromir – »Was meinen Sie dazu, wenn nun die untern Classen beschließen, sich selbst zu helfen, und wir haben dann z.B. einen Aufstand der Eisenbahnarbeiter wie der jetzige?«

»Also wäre es wirklich gegründet?« sagte der Graf Hohenthal. »Ich glaubte den Nachrichten meiner Leute nicht.«[165]

Die Gräfin ward todtenblaß und sagte: »Mein Gott, was wollen denn diese Menschen? Ach, es ist eine entsetzliche Zeit, in welcher wir leben müssen!«

»Gewiß,« fügte Aarens bei, »eine widerwärtige Zeit, wo nicht einmal mehr der gemeinste Pöbel in seinen Schranken bleiben will. – Doch wozu hat man Soldaten? Es ist Frieden, und da einmal das Militair da keine Beschäftigung hat, so benutze man es hier und mache es zu seiner Hauptaufgabe, diese Volkshefe, wenn es nicht anders möglich, durch die Gewalt der Waffen im Zaum zu halten.«

»Das wäre ja fürchterlich – Brüder gegen Brüder – das könnte doch kaum der äußerste Punkt der Nothwehr entschuldigen. – Sie denken wie ich, Graf Szariny?« fragte Elisabeth.

»Ich denke wie Sie, aber ich weiß, daß Ansichten, wie die des Herrn von Aarens, in den höchsten Kreisen sehr viel Vertreter finden – ich befürchte Schlimmes –« sagte der Gefragte.

Elisabeth fühlte sich plötzlich von einer schrecklichen Angst erfaßt. »Das sind Dinge, von denen ich früher keinen Begriff hatte. Ich sah die untern Classen immer nur von fern, wie sie friedlich ihre Arbeit verrichteten, vom Morgen bis zum Abend, und dabei zufrieden aussahen. Diese Leute, sagte ich mir, wissen es nicht anders, ihr[166] mühvolles Tagewerk ist ihnen wohl gar eine freundliche Gewohnheit; die Leiden, welche sie äußerlich treffen, sind ihnen vielleicht nicht härter, als diejenigen, welche die Wohlhabenden und Reichen geistig empfinden und in ihrem Herzen durchzukämpfen haben.«

»Und so ist es auch,« unterbrach sie ihre Mutter, »diesen Leuten ist nicht Entbehrung, was uns so scheint – sie sind in vielen Dingen glücklicher, der Hunger würzt ihr Mahl, von der Arbeit ermüdet schlafen sie auf hartem Lager besser, als wir auf weichen Polstern, der Feierabend giebt ihnen genußreiche Stunden, die gewiß so wohlthuend sind, daß wir uns gar keinen Begriff davon machen können.«

»Gewiß,« nahm Aarens das Wort, »es ist Nichts als wahre Sittenverderbniß, was den Pöbel unzufrieden machen kann; Faulheit, Trunksucht und Ausschweifungen aller Art sind die Ursachen des Elendes, welches sich öffentlich zur Schau stellt, um unsere Augen auf sich zu ziehen, unser Mitleid zu erregen, damit wir ihm die Mittel geben, ein sittenloses Leben fortzusetzen.«

Elisabeth nahm hastig wieder das Wort, das man ihr vorher abgeschnitten hatte, und sagte: »Ach nein, nein! Jetzt weiß ich es anders! Wir brauchen hier nicht weit umzuspähen, um die Noth der untersten Classen in ihrer ärgsten Gestalt zu erblicken – und seitdem ich sie gesehen,[167] seitdem hab' ich mich oft Hundert Mal gefragt, was es denn eigentlich sei, das diese Unglücklichen noch dazu vermöge, freiwillig die härtesten Arbeiten zu verrichten, da sie für ihren geringen Tagelohn sich doch nie eine glückliche Stunde kaufen können. Das Gewissen? Die Moral? – Kann das Menschen zurückhalten, deren Sitten man so verdorben schildert und die man wirklich entsittlicht hat? Und wenn sie tagtäglich gegen sich unrechte Bedrückungen erfahren, könnten sie dann nicht einmal sagen: Wenn Jene gegen uns unredlich sind, warum wollen wir es nicht wieder gegen sie sein? – Und seitdem ich mir dies gesagt habe, seitdem überfällt mich oft ein entsetzliches Grauen – denn wenn sich der Pöbel entfesselt und aufsteht, welche Schrecknisse werden dann über uns Alle hereinbrechen? – Und Sie sagten: es sei wirklich geschehen?«

Jaromir antwortete, indem seine Augen bewundernd in Liebe und Stolz an Elisabeth hingen: »Noch ist weiter Nichts geschehen, als daß ein paar Hundert Eisenbahnarbeiter einen erhöhten Lohn fordern und unterdessen Nichts gethan haben, als ihre Arbeiten friedlich eingestellt – das ist ja noch keine Empörung. Vielleicht ist es ein wohlthätiges Warnungszeichen für alle die, welche die Macht hier zu helfen oder zu bedrücken in den Händen haben, daß es besser sei, den armen arbeitenden Klassen freiwillig Concessionen zu machen, ehe sie einmal in wilder Raserei den[168] Versuch machen sollten, die Ordnung der Dinge umzukehren und sich reich und die Reichen arm zu machen. Für's große Ganze ist so vielleicht, wenn auch gerade nur indirect, dieser gefährlich aussehende Schritt der Eisenbahnarbeiter von guten Folgen.«

»Ich vernehme hier seltsame Ansichten,« sagte der Graf Hohenthal; »kaum weiß ich, ob ich recht höre und sie für Scherz oder Ernst nehmen soll – aus dem Mund meiner Tochter wenigstens klingen sie mir befremdend. – Und auch Sie, Graf, können Sie wirklich glauben, daß die Eisenbahnunternehmer sich von ihren Arbeitern werden Vorschriften machen lassen? Ist es denn nicht schon entsetzlich genug, daß jetzt jeder Bürger sich anmaßen mögte, auch mit regieren zu können, und daß ein verblendetes Zeitalter ihm dies wirklich als ein Recht einräumt – sollen wir es auch noch erleben, daß der unterste Pöbel nun dem Bürger nachdrängt und auch auf seine Weise im Lande Vorschriften machen mögte?«

Jaromir zuckte die Achseln, er kannte den starren Aristokratismus des Grafen, mit dem dieser noch festwurzelte in einer Weltanschauung früherer Zeiten, aus welcher es unmöglich war, ihn in eine neue zu versetzen. Der Stamm war in jener Zone allein ernährt zu fest und altersgrau geworden, um jetzt noch der Versetzung fähig zu sein, darum und aus Rücksicht gegen den Hausherrn[169] und gegen Elisabeths Vater sagte er, um ihn nicht zu beleidigen, nur leicht: »Freilich, hätte man gedacht, daß es so kommen werde, so würde man dem Bürger auch noch länger verweigert haben, was man ihm zugestand, halb freilich gezwungen und von den Verhältnissen gedrängt, aber doch auch halb freiwillig.«

Elisabeth, die auf Jaromirs Antwort ängstlich gespannt gewesen war, weil sie zwischen ihm und dem Vater einen Zusammenstoß fürchtete und Nichts lieber vermied, vernahm diese ruhige Antwort, welche sogar eine doppelte Deutung zuließ, mit Freude, und um nun das Gespräch von diesem Gegenstand hinwegzulenken, machte sie darauf aufmerksam, daß auf dem Platz, welchen man bis jetzt eingenommen hatte, die Sonne so vorgerückt sei, um sie bald Alle zu bescheinen, und daß man ihn deßhalb wohl mit einem andern vertauschen könne.

Der Vorschlag fand Beifall und beendete glücklich ein Gespräch, in welchem so verschiedene Ansichten aufgekommen waren.

Man hatte sich kaum an den andern Platz begeben, als zum Beweiß, wie man die Gastfreiheit auf Schloß Hohenthal zu schätzen wußte, Rittmeister von Waldow und Geheimrath von Bordenbrücken mit ihren Frauen anlangten.

Der Vorgang bei dem Eisenbahnbau war und blieb[170] aber einmal die große Neuigkeit des Tages und ward jetzt abermals Stoff der Unterhaltung.

Der Geheimrath that äußerst geheimnißvoll, versicherte aber, daß er genau wisse, daß sofort Militair requirirt worden sei, und daß dies gewiß wieder zur Ordnung verhelfen werde. Daß einige Ausländer, welche auch bereits verhaftet wären, die inländischen Arbeiter aufgehetzt, die hoffentlich selbst einsehen würden, wie sehr sie im Unrechte wären. Im Ganzen sei die Sache höchst unbedeutend, kaum der Rede werth, man habe nur unnützen Lärm gemacht, die Leute wären dort gar nicht unzufrieden, wie er selbst von den Besserdenkenden gehört. – Alles sei auch mit daher entstanden, daß man in den Zeitungen lauter Lügen verbreite, wie man in Frankreich und England höhern Lohn erzwinge, daß die Deutschen Arbeiter es auch so haben könnten, daß sie selbst schuld wären, wenn man sie schlecht bezahle – so sei die freche Tagespresse mit ihrem Geschrei an Allem Schuld u.s.w.

Der Geheimrath spielte das Berichtigungsbüreau in eigner Person ganz comme il faut, auch, daß er sich in einem Athem viel Mal widersprach, paßte vollkommen zu dieser Rolle.

Die so vergrößerte Gesellschaft blieb auf der Gräfin Aufforderung bis zum Abend im Schloß vereinigt.

Der Abend dämmerte für die Jahreszeit früh, trübe[171] und kühl herein, und man beschloß, sich zum Souper in das Schloß selbst zu begeben. Durch den Park hatte man bis dahin ein ziemliches Stück Wegs zurückzulegen.

Elisabeth neben Jaromir war ein Wenig zurückgeblieben von den Andern. Sie lenkte jetzt in eine Seitenpromenade ein, welche von den Uebrigen nicht betreten wurde, und sagte zu ihm: »Wenn wir einen Umweg von zehn Schritten machen, kann ich Ihnen meinen Lieblingsplatz zeigen, zu dem ich immer gehe, wenn ich mit der Natur allein sein will, um zu lesen oder zu träumen.«

»Wie dank' ich Ihnen, wenn Sie mich zu dieser geweihten Stelle führen!« sagte er. »Und jetzt, wo Niemand da ist, um uns zu widerlegen, Niemand von all' Denen, welche es noch nicht begreifen können oder nicht begreifen wollen, daß man ein warmes Herz hat für alle Menschen, und für die Unglücklichsten das wärmste, jetzt kann ich Ihnen sagen, wie laut mein Inneres jubelte, als ich Ihre Worte hörte – die mir bezeugten, daß Sie anders dachten, wie – nun wie man sonst denkt, wenn man in einem Schlosse unter den Augen ehrwürdig-stolzer Ahnenbilder erzogen!«

»Und haben Sie nicht ein gleiches Loos und denken doch auch wie ich?« sagte sie.

»O, doch nicht gleich! Doch muß ich verwundert fragen, woher Sie die Armuth und ihr Unglück und ihre[172] Versuchungen kennen gelernt haben? Ich kenne sie – denn mir waren sie alle Genossen!«

»Ihnen? Ihrer Phantasie – Ihren Dichterwerken.«

»Warum sollt ich mich schämen, Ihnen die Geschichte meiner Armuth zu erzählen? Meine Mutter hatte aus Polen flüchten müssen, glaubte sich dadurch ihrer Güter verlustig. Ein Verwandter, Graf Golzenau nahm mich, den Knaben, auf und ließ meine Erziehung vollenden. Wie ich zum Jüngling geworden, konnt' ich es nicht mehr ertragen, von Anderer Güte zu leben, da ich sah, wie Tausende neben mir sich auch ohne Vermögen und fremde Unterstützung durch's Leben schlagen mußten – ich nahm Nichts mehr an von meinem Verwandten – und so lebt' ich in Armuth und Dürftigkeit während meiner schönsten Jugendjahre – und daher kenn' ich die Armuth und ihr Unglück und ihre Kämpfe und ja – auch ihre Versuchungen.«

Er konnte niemals dieser Zeit denken, ohne bis in seine innersten Tiefen erschüttert zu werden; so hielt er auch jetzt inne, als sie im Gehen in eine kleine Rotunde gekommen waren, und lehnte sich auf eine kleine weiße Marmorsäule, mit der einen Hand seine Augen bergend, mit der andern nach der Elisabeths fassend. Sie gab sie ihm willig, drückte die seine innig und trat näher zu ihm.

Die Rotunde, in welcher sie standen, war von hohen Eichen gebildet, die dicht nebeneinander standen, daran[173] eine Hecke weißer und rother Rosen. Wilder Wein rankte an den Eichenstämmen empor und zog seine grünen Guirlanden von einem zum andern, sie so mit einander verbindend. Wie ein kleiner Thron vor der Rosenhecke unter diesem grünen Thronhimmel von Eichenlaub und flatternden Ranken erhob sich ein schwellender Moossitz, zu dem zwei Stufen führten, ebenfalls mit sammetnen Moos wie mit einem grünen Teppich überkleidet. Zwei kleine weiße Marmorsäulen erhoben sich daneben, auf der einen stand mit goldenen Buchstaben eingegraben: »Träume!« auf der andern: »Ruhe!«

An einer dieser Säulen lehnte jetzt Jaromir.

»Das ist mein Heiligthum, in das ich Sie führen wollte!« sagte Elisabeth.

Er warf erst jetzt einen Blick auf seine Umgebung und rief davon bezaubert aus: »Ja, das ist eine heilige Friedensstelle!« Und indem er Elisabeth zu der Moosbank führte, sagte er lächelnd: »Nehmen Sie Ihren Thron ein, Königin!«

Sie wollte nicht die Stufen hinauf und sagte: »Zu längerem Weilen haben wir keine Zeit – die Andern –«

»Und wozu diese Andern?« fiel er ihr in's Wort. »Wir haben bei ihnen schon schöne Stunden verloren – warum ihnen unausgesetzte Opfer bringen? Wenigstens für einige Momente können wir uns ihnen entziehen!« und[174] er drängte mit sanfter Gewalt Elisabeth auf den Sitz und warf sich selbst auf die oberste Stufe, so daß er zu ihren Füßen saß.

»Elisabeth!« flüsterte er, und ihre Hand immer noch in der seinen haltend, sah er mit einem unbeschreiblichen Liebesblick zu ihr auf.

Sie las in diesem Blick, was er ihr zu sagen hatte, eine süße Beklemmung überfiel sie – aber mit jungfräulicher Schüchternheit suchte sie seinem Geständniß auszuweichen, es noch zu verhindern, und sagte sanft aber ein Wenig zitternd: »Sie sagten mir, wie Sie zum Verständniß der Armuth gekommen, und ich bin Ihnen das Gleiche noch schuldig. Ich hatte im Institut, wo ich erzogen ward, einen Lehrer, den ich auf's Innigste verehre. Durch lange Krankheit seiner Gattin und ich weiß nicht, durch welches Mißgeschick noch, lebte er in der tiefsten Armuth, die er Jedermann verbarg. Aber ich habe erfahren, wie schrecklich auch dieser hohe Mensch darunter gelitten – und er lehrte uns Mitleid haben mit dem Elend und der Noth der Niedriggeborenen; und als er zum letzten Mal von uns Abschied nahm von mir und von meiner guten Pauline, welche Sie gestern kennen lernten, so mußten wir ihm versprechen, auch in den Armen und Unwissenden den Menschen zu ehren und ein liebendes Schwesterherz ihnen zu bewahren. Pauline hat den größten Wirkungskreis[175] dies zu beweisen und sie thut's, und durch sie hab' ich hier die Noth der ärmsten Classen gesehen, vielleicht in ihrer schlimmsten Gestalt.«

Er hörte ihr zu, ganz in ihrem Anblick versunken, er zog ihre Hand an seine Lippen und blieb so darauf ruhen. Dann sagte er: »So hat vielleicht nur dies Unglück, das Sie gesehen, düstere Schatten auf ihr Jugendleben geworfen, so sind Sie vielleicht nur unglücklich gewesen für Andere, und nicht, weil Sie selbst ein Leiden traf? Elisabeth! Dies Selbstvergessen – diese Engelmilde – –«

Sie unterbrach ihn: »Denken Sie nicht zu schön von mir!« sagte sie. »An jenem Tage, in jener Morgenfrühe, als Sie mich allein und weinend fanden, hatte ein egoistischer Schmerz mich niedergeworfen – ich hatte den letzten Abschied – vielleicht für's ganze Leben von meinem verehrten Lehrer genommen. Jetzt hab' ich in das Unvermeidliche mich fügen lernen, aber daß ich ihn entbehre, hat mich noch manche Thräne gekostet.«

»Elisabeth! Wenn Sie den Freund verloren, der ihr Lehrer war – werden Sie den andern Freund verstoßen – den andern Freund, Elisabeth – der Sie liebt?«

Sie neigte sich zu ihm herab – er erhob sich von seinem Sitz zu ihr hinauf. – »Jaromir!« flüsterte sie leise und hing zitternd in seinen Armen.

Nach ein paar Minuten selig stummer Berauschung[176] des Einen im Anschauen des Andern, wo bei dem innigen Anschmiegen ihre Augen einander wiederspiegelnd eine ganze wunderreiche Traumwelt öffneten, schreckten sie ein paar Vögel, die ein liebejauchzendes Brautlied sangen, aus süßem Selbstvergessen auf.

»Wir müssen in das Schloß!« sagte sie, entwand sich seinen Armen und ließ nur ihre kleine Hand in der seinigen, an der sie ihn aus der Rotunde zog.

»Und wenn ich jetzt gehorche – darf ich morgen diese Stätte wieder betreten – wenn wir allein sind?« fragte er.

»Ich ruhe dort alle Nachmittage aus –« sagte sie schüchtern.

»So sind wir morgen dort wieder vereinigt!« gelobt' er.

Als sie jetzt wieder zur Gesellschaft, die bereits im Schlosse angelangt war, zurück kamen, war bei dieser das Gespräch über die Eisenbahnarbeiter wieder im größten Schwunge. Der Rittmeister hatte es jetzt glücklich in eine neue Phase gebracht, indem er, ein trauriger Beweis der täglich herabkommenden Aristokratie, diesen traurigen Umstand dem Ausschwung der Industrie zuschrieb. Er konnte es niemals Herrn Felchner vergeben, daß er seinen Wald in Besitz genommen und für Pauline die Hand seines Sohnes Karl ausgeschlagen habe. Er schimpfte also[177] jetzt auf die Thyrannei aller Fabrikherren und nahm ihnen gegenüber die arbeitenden Classen in Schutz. Am Ende vereinigte man sich gar dahin, über die Ablösung zu klagen, die Abschaffung der ganzen Frohndienste als ein Werk zur Entsittlichung darzustellen, es schrecklich zu finden, daß auch der gemeine Mann auf dem Dorfe jetzt lesen und schreiben könne und diese für seinen Beruf ganz unnützen Dinge auch so unnütz anwende, daß er z.B. Zeitungen lese und daß nur aus dieser Ueberbildung alles Unheil komme. Denn die Eisenbahnarbeiter würden sich jetzt nicht erhoben haben, wenn die Presse sie nicht aufgereizt, daß aber die größte Ungerechtigkeit doch die sei, daß jetzt gemeine Bürgerliche, Industrielle die Herren der Welt wären, und daß gegen diese, weil sie eben nicht viel besser als sie selbst, der niedere Pöbel sich zu empören wage, während er vor einem adligen Wappenschild immer noch Respect gehabt.

Man war so in das Gespräch vertieft, daß nur Aarens die Verspätung des Paares bemerkt hatte, aber doch ihren wirklichen Grund noch nicht ahnte.[178]

Quelle:
Louise Otto: Schloß und Fabrik. Band 1–3, Band 2, Leipzig 1846, S. 159-179.
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