2. Annette v. Droste-Hülshoff. Ein Lebensbild von Schücking

[11] Börne bemerkt irgendwo, man solle nicht zu hart gegen die arme Lüge sein, sie habe doch nur vierundzwanzig Stunden zu leben. Man wäre fast versucht, unbedeutenden geistigen Produkten gegenüber gleiche Milde anzuempfehlen; ihr Dasein ist so kurz, daß man es ihnen nicht verkümmern sollte. Sie sinken mit der Tageswelle, die sie emportrug und keine Spur bleibt von ihnen zurück. Ihnen mit Ernst zu Leibe gehen, heißt mit Kanonenkugeln auf Seifenblasen schießen. Wartet nur eine kurze Weile, sie werden schon von selbst platzen. Wozu sich abmühen, um die Nichtigkeit gewisser Poetlein darzutun, die durch glückliche, nicht immer zufällige Umstände begünstigt, sich auf einen Platz gedrängt haben, der ihnen nicht gebührt? Es ist nicht nur bequemer, sondern auch klüger, das Richteramt über sie der Zeit zu überlassen, deren Hauch das Nichtige verweht und das Große verklärt. Was ist von so vielen Versen übrig geblieben, denen es zur Zeit ihres Erscheinens an Beifall nicht fehlte, die in niedlicher[11] Miniaturausgabe auf dem Bücherbrett eleganter Damen lagen und um so lieber gelesen wurden, je geringere Anforderungen sie an den Leser stellten? Niemand weiß mehr von ihnen, sie sind als wären sie nie gewesen. Wer wäre so grausam, ihnen ihren flüchtigen Erfolg zu mißgönnen, oder so töricht ihnen vorzuwerfen, sie hätten das Große verdrängt. Das Große läßt sich nicht erniedrigen; es kann eine Weile unerkannt bleiben, aber sein Tag muß kommen und der Sieg ist ihm gewiß. Wir erleben es jetzt: während so manche »gesinnungstüchtigen« oder »liebenswürdigen« Poeten, von denen vor zwei Dezennien, ja selbst in minder ferner Vergangenheit viel Redens und Rühmens war, heute ganz und gar vergessen sind, verbreitet sich allmählich der Ruhm der größten deutschen Dichterin, deren Stimme, wenn auch lange überhört, endlich siegreich durchgedrungen ist, ein Herold der eigenen Herrlichkeit.

Ich habe vor längerer Zeit ein literarisches Charakterbild der Droste zu geben und die Ursachen zu erklären versucht, welche der unmittelbaren und allgemeinen Wirkung dieses außerordentlichen Geistes hindernd im Wege standen. Es scheint, daß jene Ursachen, die zum großen Teil äußerlicher Natur waren, nach und nach ihre Hemmkraft verloren haben, denn die Werke der Droste, die früher nur ein kleiner Kreis von Wissenden, möchte ich sagen, im[12] Herzen trug, finden mehr und mehr Verbreitung, wie die neu erschienene Auflage der »Gedichte« beweist der vor nicht langer Zeit eine zweite Auflage der religiösen Dichtungen »Das geistliche Jahr« voranging. Es ist ein später Sieg, an dem sich das längst zu Staub zerfallene Herz der Dichterin nicht mehr erfreuen kann; wohl aber mögen wir uns freuen, daß das deutsche Volk endlich zur Erkenntnis des Schatzes gelangt ist, für den es allzu lange blind war.

Mit gutem Grund hat Levin Schücking diesen Zeitpunkt abgewartet, um dem Publikum die innere und äußere Lebensgeschichte der Dahingeschiedenen mitzuteilen. Gewiß war er vor Vielen befähigt, diese Aufgabe zu lösen: seit seinen Knabenjahren kannte er die Dichterin, die freundlich ruhige Unbefangenheit, mit der sie, die wohl um siebzehn Jahre ältere Frau, ihm gegenüber stand, ließ ihn manchen tiefen Einblick in die Schätze tun, die sie sonst der Welt lieber verbarg als zeigte und manche ihrer Besonderheiten nur ihm durch die Rasseneigenheiten des Stammes verständlich, dem er so gut wie sie angehörte. Das letztere Moment darf bei einer Schilderung der Droste nicht übersehen werden; trennt man sie von dem Boden, auf dem sie aufwuchs, so bleiben viele charakteristische Züge ihres Wesens und ihrer Dichtung unerklärt. Es ist eine leere Phrase, wenn man behauptet, die auserlesenen Geister, die Künstler und Dichter hätten kein spezielles Vaterland,[13] ihr Vaterland sei die Welt und was dergleichen schöne Worte mehr sind. Ihre Wirkung freilich erstreckt sich über die Welt, doch ist ihnen deshalb nicht minder das Gepräge ihrer irdischen Heimat deutlichst aufgedrückt, und vielleicht ist es gerade dies, was ihnen neben ihrer allgemein menschlichen Bedeutung zugleich auch den Reiz des Konkreten verleiht. In diesem Reize spiegelt sich das individuelle Leben der Völker und Volksstämme und mit ihm die unendliche Mannigfaltigkeit der Welt.

In anmutig einfacher Weise schildert Levin Schücking seine erste Begegnung mit der Droste, ihre äußere Erscheinung, ihre Umgebung und die Verhältnisse, in denen sich ihr Leben in stiller Gleichförmigkeit hinspann. Ihre Familie gehört zu den alten Adelsgeschlechtern Westfalens und hat manche ausgezeichnete Mitglieder aufzuzählen. Annettens Mutter war eine Schwester des auf dem Gebiet der Länderkunde hochverdienten Freiherrn von Haxthausen. Zu Hülshoff, dem alten Stammsitz der Familie, wurde Annette Elisabeth v. Droste als das zweite Kind ihrer Eltern im Jahre 1797 geboren und hat dort gelebt, bis sie nach dem 1826 erfolgten Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter den Witwensitz Rüschhaus bezog. Sie war von ungemein zarter Konstitution, in der die Nerventätigkeit überwiegend vorherrschte; um diese letztere herabzustimmen, hielt man es für angemessen, bei ihrer Erziehung[14] eine gewisse, jede Exzentrizität im vorhinein unterdrückende Strenge vorwalten zu lassen. Gründlicher Unterricht in wissenschaftlichen Gegenständen sollte zur Erreichung dieses Zweckes mithelfen. Annette nahm an den Lehrstunden ihrer Brüder teil und erwarb sich manche Kenntnisse, die Frauen fremd zu bleiben pflegen. Auch das bedeutende musikalische Talent des Kindes ward nicht vernachlässigt. Schon frühe regte sich die dichterische Gabe. Die erste poetische Entwicklung der Droste fiel in jene schwächlich sentimentale Zeit, die bewundernd zu Salis und Mathisson aufblickte und in Ernst Schulzes »die bezauberte Rose« des Evangelium der Poesie verehrte. Es konnte nicht fehlen, daß Annette diese Meister, die sich ihr überall aufdrängten, nachahmte. Schücking teilt ein Fragment aus einem größeren Gedichte mit, das sie in ihrer Jugend schrieb; es zeigt uns das Talent der Droste, dessen Stärke eben in seiner strammen Objektivität liegt, auf falscher Fährte, doch begegnet man selbst hier einzelnen Stellen, die für die Gestaltungskraft der jugendlichen Dichterin ein glänzendes Zeugnis ablegen.

Ihr Leben im Vaterhause wird uns von Annette v. Droste selbst in unvergleichlicher Weise geschildert, und zwar in einem Bruchstücke, das Schücking ihrem schriftlichen Nachlasse entnahm, um es in dieses Buch einzuschalten. Mit einem staunenswerten Schilderungstalent entwirft sie darin ein Bild der Umgebung, in[15] der sie aufgewachsen ist und unter der sie den größeren Teil ihres Lebens zubrachte. Auch ihr eigenes Porträt ist darin mit einer Klarheit und Festigkeit gezeichnet, welche die Ähnlichkeit verbürgen. Gewöhnlich lebte die Familie auf dem Lande, und wenn hie und da ein Ausflug gemacht wurde, überschritt er nicht die Grenzen der Heimat. Erst, als Annette infolge eines schmerzlichen Anlasses in eine Melancholie versank, welche den Arzt auf eine Ortsveränderung dringen ließ, kam sie mit der Welt in Berührung. Sie brachte mehrere Winter in Cöln und dann in Bonn zu und erhielt, namentlich in dem letzteren Ort, der damals einen geistig hochbedeutenden Kreis beherbergte, den Abschluß ihrer Jugendbildung.

Mit Recht weist Schücking darauf hin, wie gerade in jenen Jahren in der Literatur ein erfrischendes, belebendes Element sich Bahn zu brechen begann. Es erstand die deutsche historische Schule; der Einfluß Walter Scotts gesellte sich hinzu, um die konventionelle Anschauung der Vergangenheit durch eine richtigere zu verdrängen. Es ist nicht schwer den Eindruck zu ermessen, den diese Umstimmung in Annette hervorrufen mußte; es mag ihr gewesen sein, als würde sie erst jetzt in ihr richtiges Element versetzt. Sie sah die Wahrheit, die sie im Leben vor allem liebte und ehrte, nun auch in der Dichtung auf den Thron erhoben. Um jene Zeit schrieb sie das »Hospiz auf dem St.[16] Bernhard«, dem bald »Des Arztes Vermächtnis« und »Die Schlacht im Loener Bruch« folgen.

Nebst diesen epischen Gedichten war im Laufe der Zeit auch eine Anzahl lyrischer entstanden und dringenden Aufforderungen nachgebend, entschloß sich Annette zur Veröffentlichung des kleinen Bandes. Er erschien im Jahre 1837 zu Münster unter dem Titel: »Gedichte von A. E. v. D. H.« Der Erfolg war ein sehr bescheidener. Es darf nicht befremden, daß in einer Zeit, in der das junge Deutschland eine Art literarischer Hegemonie ausübte, die Gedichte der Droste nicht durchdringen konnten. Doch auch davon abgesehen, hätte es eines besonderen Glücksterns bedurft, um der in einer entlegenen Provinzhauptstadt, unter dem Schleier der Anonymität erschienenen Sammlung Geltung zu verschaffen.

Die Dichterin selbst nahm, wie uns Schücking versichert, diesen Nichterfolg mit philosophischem Gleichmut hin, wie sie denn überhaupt in der ruhigen Kraft und Hoheit ihres Wesens sich um den Beifall oder Tadel der Welt nie weit gekümmert zu haben scheint.

Schon früher war Annette in ihre Heimat zurückgekehrt. Ihre ältere Schwester hatte sich mit dem Reichsfreiherrn von Laßberg verheiratet und war mit ihm nach der Schweiz gezogen: die Mutter machte Reisen dahin, welche sie mitunter für Jahresfrist ferne hielten. So war das stille Rüschhaus noch stiller geworden;[17] nichtsdestoweniger harrte Annette aus eigener Wahl dort aus. Die Schilderung ihres Lebens auf dem einsamen Edelsitze ist eine der gelungensten Partien dieses Buches. Kein Detail, das den charakteristischen Ausdruck zu erhöhen vermag, ist vergessen. Man sieht sich in die von ihr bewohnten Ruinen versetzt, die nach Schückings Bemerkung eben so wenig an das Boudoir einer Dame, als an das Arbeitszimmer einer Schriftstellerin erinnerten. Nie hat die Droste in der Literatur ihren eigentlichen Lebensberuf erblickt, schon ihre schwankende Gesundheit machte ihr jede angestrengte Tätigkeit unmöglich. Ein nervöses Leiden äußerte sich schon damals in beunruhigenden Symptomen. So spann sie sich immer tiefer in ihre Einsamkeit, die sie jedoch mit den entschiedensten Interessen zu beleben wußte. Sie hatte Lust am Sammeln; der braun angestrichene Tisch in ihrem Wohnzimmer enthielt eine Menge prachtvoller alter Münzen und Gemmen und merkwürdiger altertümlicher Uhren in getriebenen Goldgehäusen. Die Kinder aus dem Dorfe statteten unter ihrem Fenster häufig Besuche ab, um sich von dem »Frölen« allerlei schöne Geschichten »vertellen« zu lassen. Die Rats- oder Hilfsbedürftigen aus der Umgebung wendeten sich an sie, deren unerschöpfliches Wohlwollen in der Sorge für andere seine liebste Beschäftigung fand. Auch die Musik war eine freudebringende Gefährtin ihrer Einsamkeit. Annette[18] v. Droste besaß für diese Kunst eine große und schöpferische Begabung und war Meisterin im Improvisieren. Doch wie in der Poesie entschloß sie sich nur selten, ihre musikalischen Eingebungen auf dem Papiere festzuhalten. Man besitzt in diesem Fache von ihr nur eine Reihe altdeutscher Minne- und Volkslieder, deren Text gleichfalls ihr angehört. Die beiden Volkslieder, die Schücking hier mitteilt, sind in der Tat von reinster Stimmung und wunderbarer Schönheit.

Auch die Entstehung der Mehrzahl der im »geistlichen Jahre« enthaltenen Dichtungen fällt in diese Zeit. Sehr treffend, ja mit psychologischem Tiefblick schildert Schücking das Verhältnis der Droste zur Religion und mit diesem die einzigen schmerzvollen Seelenkämpfe, welche ihr sonst so still umfriedetes Leben verstörten. Sie war zu strenger Gläubigkeit erzogen worden, aber ein Geist wie der ihre war nicht gemacht, in Glaubenssätzen, zu denen er nicht durch eigene Arbeit gelangt war, Beruhigung zu finden. Finstere Zweifel regten sich in ihrer Brust. Man erlaube mir hier Schückings eigene Worte als die bezeichnendsten anzuführen:

»Sie blickte scharf und kühn den letzten Folgerungen der Negation ins Antlitz. Aber vor dem Abgrund des Nichts erschauderte ihre Seele in ihren tiefsten Fibern. Sie zog den kühn emporgedrungenen Fuß zurück vor diesem Abgrund; ihr kritisches Denken,[19] das sich gegen den Glauben gerichtet hatte, begann sich mit gleicher Schärfe gegen den Unglauben zu richten. Sie hörte die Stimmen des Gemütes, die wie leise Glockentöne mahnend zur Umkehr riefen, und die Phantasie beflügelte diese Umkehr.«

Diese inneren Vorgänge erklären die stürmische, ja mitunter wilde Leidenschaftlichkeit des religiösen Gefühls, das sich in ihrem Buche »Das geistliche Jahr« ausspricht. Es liegt darin die angstvolle Heftigkeit eines Schutz suchenden Geistes, die tiefe Zerknirschung eines sich selbst mißtrauenden Herzens.

Mit diesem Glaubensbedürfnis übereinstimmend war der Hang zum Wunderbaren, Geheimnisvollen, der einen eigentümlichen Zug der Droste ausmacht. Sie glaubte an das Hereinragen einer Geisterwelt in diese sichtbare. Von Natur aus besaß sie ein merkwürdiges Organ für das Mysteriöse; ihre von Wunderglauben erfüllte Heimat tat das Ihrige, um es noch mehr auszubilden. Gedichte, wie ihr »Fundator«, »Vorgeschichte«, »Das Fräulein von Rodenschild« kann nur der mit gleicher Macht und Wirkung schreiben, der von der Wahrheit der darin erzählten Begebenheit wirklich überzeugt ist. Einen seltsamen Eindruck macht es, daß die Droste, an deren unerschütterlicher Wahrheitsliebe kein Zweifel möglich, den Vorgang, den die Handlung des letztgenannten Gedichtes bildet, selbst erlebt zu haben behauptete.[20]

Es kam nun eine Zeit, in der das stille abgelegene Rüschhaus ganz verlassen stand. Annettens Schwager, Baron Laßberg, hatte das Schloß Meersburg am Bodensee an sich gebracht; dorthin zog nun die Dichterin, um im Kreise ihrer Verwandten, angesichts einer herrlichen Natur, Stärkung ihrer Gesundheit und neue Anregungen für ihren Geist zu finden. Man errät leicht, wie bald sie sich hier heimisch fühlen mochte: die Nähe einer geliebten Schwester bot ihr stillen Herzensgenuß, eine wunderbare, von Alpenfirnen begrenzte Gegend breitete sich vor ihren Blicken aus, die von Merovingern erbaute Burg, in der sie jetzt hauste, rief tausend poetische Träume in ihr wach. Die Rückwirkung dieser günstigen Umstände blieb nicht aus; Annette fühlte sich wieder zu dichterischem Schaffen angetrieben. Sie schrieb »Die Judenbuche«, eine meisterhafte, in den »letzten Gaben« enthaltene Erzählung aus dem westfälischen Volksleben und infolge einer Wette, die sie mit Levin Schücking eingegangen war, entstand im Verlauf weniger Monate, im Winter 1841–1842 die weitaus große Anzahl der lyrischen Poesien, die sich in dem Bande ihrer »Gedichte« befinden.

Im Jahre 1844 erschien dieser Band, dem die früher veröffentlichten drei größeren Gedichte und noch ein viertes »Der Spiritus Familiaris des Roßtäuschers« eingeschaltet wurden, in Cottas Verlag. Ich habe bereits erwähnt, daß die Aufnahme, die sie[21] fanden, mit ihrem Wert in sehr ungleichem Verhältnis stand. Ein Teil der Schuld trifft allerdings die Dichterin selbst, die ihre großartigen Gedanken und tief ursprünglichen Empfindungen mitunter durch eine unklare verworrene Ausdrucksweise und eine keineswegs tadellose Form beeinträchtigt hatte, doch beruhte diese Ungunst unendlich mehr in den Zeitverhältnissen. Jedenfalls hat man die Beruhigung, daß der geringe Erfolg in das Leben der Dichterin keine Trübung brachte: ein ruhiges Selbstbewußtsein und eine in berechtigtem Stolz wurzelnde Gleichgiltigkeit gegen das Urteil der Menge machten es ihr leicht, den fremden Beifall zu entbehren.

Im Frühjahr 1847 kehrte sie noch einmal nach Westfalen zurück; im Herbst desselben Jahres begab sie sich wieder nach Meersburg. Sie hatte ihre Heimat zum letzten Male gesehen, ihre letzten Tage waren gekommen. Bereits von Krankheit niedergebeugt, mußte sie noch Zeugin der verhängnisvollen Erschütterung sein, welche der Frühling des Jahres 1848 unserm Weltteil brachte. Sie schrack vor dem drohenden Umsturz aller Verhältnisse und Anschauungen zurück wie vor dem Chaos. Es war ihr nicht gegönnt, die Wogen wieder in ihr Bett zurücktreten zu sehen; am 24. Mai 1848 machte ein Herzschlag ihrem Leben ein Ende. Sie hatte vor vier Monaten ihr fünfzigstes Jahr zurückgelegt.[22]

Überdenkt man dieses Leben, das kaum von einem bedeutenden äußeren Ereignisse bewegt, in stiller Gleichförmigkeit hinfloß, dem es nicht gegönnt war, seine einzelnen Strahlen in einem Brennpunkte zu sammeln und vergleicht man damit die wunderbaren Blüten, die es dennoch trieb, so fühlt man sich mehr und mehr in der Überzeugung bestätigt, daß die geistige Entwicklung des Menschen von der Gunst der Verhältnisse vollkommen unabhängig ist. Man wird nur was man schon ist; mit anderen Worten: die Naturgaben, die wir mit zur Welt bringen, sind unser wahres Schicksal, an dem äußere Geschicke so viel wie nichts ändern. Die Verhältnisse, in denen die Droste ihre Tage hinbrachte, waren durchaus nicht danach angetan, einen poetischen Genius zu wecken. Keine Anregung von außen her eröffnete ihr neue Gedankenkreise, beim Vollgefühl persönlicher Befriedigung lehrte sie die Fülle des Daseins begreifen, die monotone Schlichtheit ihrer Umgebung führte kein Bild eines im blendend raschen Wechsel begriffenen Lebens an ihrer Phantasie vorüber. Nichtsdestoweniger ist die Droste die größte Dichterin ihrer Nation geworden, denn statt jener Hilfsmittel hatte ihr der Himmel die Kraft verliehen, welche ohne diese das Höchste erreichen kann. Sie besaß den Seherblick, der, von der Erscheinung unbeirrt, die Dinge in ihrer Urgestalt erfaßt, den gewaltigen Geist, der die Welt besiegt, indem[23] er auf sie verzichtet, das tiefe, reiche, liebeströmende Herz, das, wie sie selber es so schön ausspricht, sich zum Mittelpunkt der Welt macht, indem es Lust und Leid der Anderen in sich aufnimmt. Aus diesem Verein der seltensten Gaben entsprang in natürlicher Folge noch eine, und zwar diejenige, die vielleicht den hervorstechendsten und eigentümlichsten Zug der Dichterin ausmacht, ihr zaubervoller Humor, der ganz nach Jean Pauls Definition, in der Tat ein Lächeln voll Schmerz und Größe ist. Schücking hat vollkommen recht, wenn er diesen Humor als das eigentlich charakteristische Moment der Droste betrachtet. Ihre tiefinnere Liebenswürdigkeit beruht zumeist auf ihm, denn frei von jeder Bitterkeit, jedem ironischen Beigeschmack, ist er vor allem der Ausdruck eines von unendlichem Wohlwollen durchdrungenen allseitigen Verständnisses der Welt.

So tritt uns das Bild der Dichterin in Levin Schückings Buch entgegen, und warme Anerkennung muß dem Verfasser gezollt werden, wenn er auch nicht alle Rätsel dieser vielgestaltigen Seele löst, nicht alle Tiefen dieses ungewöhnlichen Charakters beleuchtet. Ein befremdendes Rätsel ist es gewiß, daß dies tief und leidenschaftlich empfindende Dichterherz, dies im höchsten Sinne weibliche Gemüt voll treuer Hingebung und opferfroher Selbstvergessenheit, die Liebe in dem Sinne, der sich gewöhnlich an dieses Wort knüpft, nie gekannt[24] zu haben scheint. Ihre freilich erst in einer späteren Lebenszeit entstandenen Gedichte enthalten kaum eine Reminiszenz, die auf ein ähnliches inneres Erlebnis schließen ließe und ebenso sorgfältig vermeidet ihr Biograph diesen Punkt nur entfernt zu berühren. Ist ihr jenes Gefühl, das den Angelpunkt im Leben des Weibes zu bilden pflegt, wirklich immer fremd geblieben, so müßte der Grund dieser abnormen Erscheinung erklärt werden; wenn nicht, so war eine Andeutung, die leicht von jeder rohen Indiskretion rein zu halten gewesen wäre, erforderlich, um dem Leser auch nach dieser Seite hin einen Einblick in das seelische Leben dieser außerordentlichen Erscheinung zu gewähren. Daß Levin Schücking vollkommen befähigt war, diese Aufgabe mit sicherer und pietätvoller Hand zu lösen, beweisen viele andere Partien seines Buches, namentlich diejenigen, in welchen er von dem poetischen Schaffen der Droste spricht. Sehr dankenswert ist, daß er auch einzelne ihrer Gedichte kommentiert, deren Verständnis mitunter durch einen schroff abspringenden Gedankengang und eine unklare Ausdrucksweise erschwert wird. Ein Fehler, und zwar ein großer Fehler ist dies freilich, aber der Wert des poetischen Inhalts wird dadurch nicht aufgehoben, und wenn das Dunkel solche Schätze beherbergt, wie hier, ist es ein Verdienst, die Leuchte des erklärenden Wortes hinzutragen.[25]

Schließlich sei noch des wesentlichen Vorzugs erwähnt, den die in Rede stehende Biographie vor vielen ähnlichen Arbeiten hat, sie ist frei von der blinden urteillosen Lobsucht, die einem die Persönlichkeit, vor der sie ihre Weihrauchwolken aufsteigen läßt, nahezu verleiden könnte und frei von jenem Superioritätsdünkel, der die Schilderung des Fremden nur als Folie für die eigene Wohlweisheit benutzt. Sie ist mit einem Worte weder aus haltloser Überschwänglichkeit, noch aus selbstischem Trachten hervorgegangen, sondern ein reines Werk der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe.

Quelle:
Betty Paoli: Gesammelte Aufsätze. Wien 1908, S. 11-26.
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