Betty Paoli

Ferdinand von Saar: Die Steinklopfer. Eine Geschichte.

Oft habe ich mich verwundert gefragt, warum man sich wohl die Mühe nimmt, jedes neu erschienene Buch oder Büchlein kritisch zu zerlegen. Meines Erachtens ist besagte Operation nur in zwei Fällen am rechten Platze und von wirklichem Nutzen: erstens, wenn es sich darum handelt, dem Guten und Vortrefflichen durch die eingehende Erläuterung seiner Vorzüge zu der ihm gebührenden Verbreitung zu verhelfen; zweitens, wenn es gilt, die Trugschlüsse und falschen Empfindungen zu bekämpfen, mit denen so manches wirkliche, aber mißbrauchte Talent die Begriffe zu verwirren, den sittlichen Standpunkt, zu verrücken bemüht ist. Dort ein würdigendes, hier ein warnendes Urteil zu fällen ist eine Gewissenssache für jeden, der die Literatur nicht bloß als einen Erwerbszweig für die Schriftsteller und ein Mittel zur Unterhaltung für das Publikum betrachtet. An dem Gewöhnlichen, Alltäglichen hingegen[202] sollte, meine ich, die Kritik mit schweigender Gleichgiltigkeit vorübergehen, statt ihm durch ihre Auslassung eine Wichtigkeit beizulegen, die es ganz und gar nicht besitzt. Sie verkennt die Würde ihrer Mission, wenn sie sich mit der Mittelmäßigkeit beschäftigt, die weder nützen noch schaden kann, die sich weder veredeln noch ausrotten läßt. Statistische Tabellen weisen nach, daß Jahr für Jahr so ziemlich die gleiche Anzahl von Briefen mit unvollständiger oder ganz ohne Aufschrift der Post übergeben wird. Ich will deshalb gerne zugeben, daß kraft eines noch nicht ergründeten Naturgesetzes alljährlich so und so viele Bücher erscheinen müssen. Gut! Tut es denn aber auch not, sie alle zu besprechen? Welches Heil darf man sich davon erwarten? Das Totgeborene kann man ebenso wenig beleben, als man sich die Mühe zu geben braucht, es tot zu schlagen. Man erweise der Mittelmäßigkeit nicht die Ehre, sich mit ihr zu befassen. Zu beseitigen, zu besiegen ist sie nun einmal nicht; der Natur der Sache nach wird sie immer das Gros bilden, und immer wird die Menge sich verwandtschaftlich zu ihr hingezogen fühlen. Das läßt sich nicht ändern, so wenig es sich ändern läßt, daß hundert Alltagsgesichter auf ein bedeutendes kommen. Wem fällt es aber ein, sich in jene zu vertiefen (?) und sie zu analysieren? Ich meine, es wäre gut, wenn man es mit den Alltagsbüchern ebenso machte und sich nur mit Werken beschäftigte, die, weil einem wirklichen[203] Talente entsprungen, eine nachhaltige Wirkung, sei es im guten oder im schlimmen Sinne, hervorzubringen vermögen. Ihrer erscheinen allerdings nicht gar viele, doch noch immer genug, um die Kritik nicht feiern zu lassen, wenn sie sich entschließen will, die Werke bedeutender Talente mit demselben Ernste zu behandeln, mit dem sie geschrieben wurden.

So ist es denn nicht der Umstand, daß Saars obengenannte Erzählung eben erst erschienen ist, sondern ihr künstlerischer Wert, der mich veranlaßt, sie der Aufmerksamkeit des Publikums zu empfehlen – jenes Teiles des Publikums, den die Natur mit Empfänglichkeit für echte Poesie begnadet hat und dessen Blick frei genug ist, um am Menschen nur das ewig Menschliche zu achten, nur dieses tiefer, liebevoller Teilnahme wert zu halten. Schon in seinen früheren Dichtungen hat Saar bewiesen, daß ihm von den Eigenschaften, die den geborenen Poeten kennzeichnen, keine fehlt. Er besitzt die Gabe, den Erscheinungen der Welt den von Tausenden ungeahnten Kern ihres Wesens abzufragen, und die Kraft, ihn künstlerisch zu gestalten. Mit dem Instinkt des großen, ursprünglichen Talents weiß er bei jedem Vorwurf, den er aufgreift, den Schwerpunkt zu entdecken, auf den hingearbeitet, auf den alles Gewicht gelegt werden muß. In seltenem Maße ward ihm die Fähigkeit zuteil, für jede Stimmung im Menschengemüte wie im Leben der Natur den bezeichnenden und[204] erschöpfenden Ausdruck zu finden. Er kennt die schmerzlichen Probleme, mit denen das Leben uns bedrängt, und sucht sie, wenigstens auf dem idealen Gebiet der Kunst, versöhnend zu lösen. Diese Eigenschaften, im Verein mit einem sehr ausgebildeten Sinn für den Adel und die Schönheit der Form, sicherten den ersten Werken, mit denen er hervortrat (»Innocenz« und »Kaiser Heinrich IV.«), lebhafte Anerkennung und Teilnahme. Nach allzu langem Schweigen veröffentlichte Saar im vorigen Jahre wieder eine Erzählung: »Marianne«. Der feine Reiz des Details und eine ganz merkwürdige Macht der Stimmung erwarben ihr Freunde, doch war sie, mit »Innocenz« verglichen, nicht eben als ein Fortschritt zu betrachten. Es fehlte darin die eigentliche psychologische Entwicklung, die in jener früheren Erzählung so meisterhaft veranschaulicht ist. Das Interesse, das sie einflößen konnte, war vornehmlich das eines von romantischen Nebenumständen begleiteten pathologischen Falles. In seinem letzterschienenen Buche hat Saar sich wieder auf sein wahres, innerstes Selbst besonnen und das ästhetische Grundgesetz befolgt, kraft dessen alle Geschehnisse aus den Charakteren und Seelenzuständen der handelnden Personen mit Naturnotwendigkeit hervorgehen müssen und alles bloß Zufällige aus dem Reiche der Dichtung verbannt ist. Was Saar uns hier erzählt, ist die in ihrer Schlichtheit tief ergreifende Geschichte zweier in Not[205] und Elend verkümmerten Menschen, die, durch gemeinsames Leid und verwandte Gemütsart zueinander hingezogen, in einer innigen, treuen, selbstvergessenen Liebe die Verklärung ihres trüben Erdenloses finden. Da der Verfasser kein Idyll, sondern ein auf dem rauhen Boden der Wirklichkeit fußendes Lebensbild schreiben wollte, mußte er auch die Zustände der untersten Volksklassen berühren, der jene beiden angehören. Er vermeidet dabei jede tendenziöse Färbung, er wirft sich nicht zum Anwalt des sogenannten fünften Standes auf, aber die Dinge sprechen für sich, und mit schwerem, beklommenem Herzen wird mancher Leser sich fragen, ob die Vorteile unserer Zivilisation, wenn sie mit dem fortwährenden Opfer des menschenwürdigen Daseins von Millionen bezahlt werden müssen, nicht zu teuer erkauft sind. Unvergleichlich zart und innig ist das innere Erblühen dieser in der hoffnungslosen Trauer halb erstarrten Seelen geschildert, ihr Sichentfalten an dem plötzlich hereindringenden Sonnenlicht der Liebe, die in ihnen vorgehende Wandlung, die sie der dumpfen, verzweiflungsvollen Resignation entreißt und ihnen Mut zur Abwehr, Kraft zum Handeln verleiht. Wenn wir Georg und Tertschka, an dem entscheidenden Wendepunkt ihres Schicksals angelangt, plötzlich ihre bisherige Schüchternheit und Verzagtheit abstreifen sehen, ist es nicht, weil sie im Handumdrehen zu anderen Menschen werden, sondern weil die Größe der Gefahr, der Drang,[206] das Liebste zu retten, ihnen das lang unterdrückte Bewußtsein ihres Menschenrechtes zurückgibt. Von gleicher innerer Wahrheit und Schönheit ist die endliche Lösung all der Wirrsale. Mit künstlerischer Feinfühligkeit motiviert der Verfasser die Teilnahme, die der ernste, strenge Oberst den Liebenden schenkt, mit einem trüben Erlebnis aus dessen Jugend. Die herbe Dissonanz, die es in sein Inneres brachte und die noch in späten Jahren verbitternd nachklingt, muß vor dem Beispiel aufopfernder Liebe und Treue, das ihm hier vor Augen tritt, verstummen, der Glaube an das Höchste und Feinste im Leben wird ihm neugeschenkt. So führt er nicht als ein Deus ex machina, sondern als der Verpflichtete seiner Schützlinge die versöhnende Wendung herbei.

Schlicht wie die Verhältnisse sind, ist auch der Ton der Erzählung; selbst im höchsten Pathos bleibt er einfach und volksgemäß. Nirgends überschreiten die vorkommenden Personen den engen Gedankenkreis, auf den ihre niedere Bildungsstufe sie beschränkt, doch auch innerhalb desselben gewinnen sie unsere Teilnahme durch die Naturlaute, die uns aus ihren Gesprächen entgegentönen, durch die charakteristische Klarheit jedes ihrer Worte. Auch die Szenerie ist meisterhaft behandelt. Nicht als ob der Verfasser sich in landschaftlichen Schilderungen erginge – nur in flüchtigen Zügen entwirft er das Bild der Gebirgsgegend, die der[207] Schauplatz der Handlung ist; aber da ist kein Strich, der nicht den Eindruck vervollständigte, keine Tinte, die nicht zur Erhöhung der Stimmung diente. Das will mehr besagen, als die eingehendste Beschreibung.

Es ist, trotz seines geringen Umfanges, ein Werk von wahrhafter Bedeutung, das ich hier der Lesewelt empfehle. Möge der Erfolg, den es unzweifelhaft finden wird, dem Verfasser ein Sporn zu frischer, freudiger Tätigkeit sein. Als Erzähler hat er sich glänzend erprobt – jetzt gilt es auch, das große dramatische Talent, das sein »Kaiser Heinrich IV.« bekundet, zu voller, reicher Entfaltung zu bringen.

Quelle:
Betty Paoli: Gesammelte Aufsätze. Wien 1908, S. 202-208.
Erstdruck in: Neue Freie Presse, Wien, 8. Mai 1874.
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