Der Orient

[173] O wär' ich, wo aus ros'gen Thoren

Die Sonne tritt mit hell'rem Glanz,

Im schönen Orient geboren,

Ein Kind des lichten Morgenlands!


O hätt' ich, fern von dieser Stelle,

Wo Lieb' und Haß gleich schmerzlich quält,

Dort in Arabiens Sandeswelle

Mein einsam stehend weißes Zelt!


Dort wollte ich mich glücklich nennen,

Weil Glück bei Einsamkeit nur wohnt;

Dort lernte ich die Freiheit kennen,

Die nur in öder Wüste thront!
[174]

Dort wollt' ich ruh'n in Palmenschatten,

In der Oase duft'gem Raum,

Und meinen Muth, den todesmatten,

Erstarken an holdsel'gem Traum.


Dann wollt' ich auf das Roß mich schwingen,

Gezähmt von meiner eignen Hand

Und wie auf raschen Sturmesschwingen

Hinfliegen durch das offne Land.


Und Abends wollt' ich sinnend weilen

Vor meines Zeltes nied'rer Thür,

Und meiner Seele Sehnsucht heilen

Am Sternenhimmel über mir.


So, fern vom drangvollen Geschäfte,

Von Trug und Haß und Heuchelschein,

Im Hochgefühl der eignen Kräfte,

Wie stolz und glücklich wollt' ich sein!


Doch wehe! weh! hier muß ich leben

In dieser stürmevollen Ruh'

Und nur die bangen Wünsche schweben

Dem lichten Morgenlande zu!

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Pest; Leipzig 21845, S. 173-175.
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