Einem Jugendfreunde

[146] Die Mutter sah ich bleich im Sarge liegen,

Die frommen Hände zum Gebet gefaltet;

In des Geliebten todtenblassen Zügen

Hat sich ein dunkles Reich für mich entfaltet.

Doch, trotz der strenge wiederholten Mahnung,

Blieb mir doch fremd des Tod's geheimste Ahnung,

Und was ich sah, schien mir ein Sterben nur!

Denn, als sie schieden aus dem Weltgetriebe,

Sprach noch ihr letzter Blick von ew'ger Liebe;

Ihr letzter Seufzer war ein Liebesschwur.


Du aber lehrtest, als du mich verlassen

In flücht'gen Leichsinns herzlos roher Richtung,

Mich jenen furchtbaren Gedanken fassen

Der rettungslosen ewigen Vernichtung.[147]

Dein Treubruch warf des Todesahnung Schatten

Auf meines Lebens hoffnungshelle Matten –

Und sicher, fest scheint mir nichts mehr fortan.

Als deiner Freundschaft Traumbild mir zerronnen,

Da hat des dunkeln Schnitters Werk begonnen –

Zu seiner Ernte reif' ich schnell heran!

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Pest; Leipzig 21845, S. 146-148.
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