Gebrochenes Schweigen

[135] Als Krösus stummer Sohn das Schwert im Schwunge

Ob seines Vaters theuerm Haupt sah schweben,

Zerriß das Weh die Fessel seiner Zunge,

Und flehend rief er: »Schont des Königs Leben!«


So ist in meiner Brust auch lange, lange

Die Leidenschaft verhüllt und stumm geblieben,

Nicht folgte ich der Seele mächt'gem Drange,

Zu sprechen dir von meinem tiefen Lieben.


Doch jetzo, da der Augenblick gekommen,

Der irdisch ew'ge Trennung uns soll bringen,

Will mir mein stolzes Schweigen nicht mehr frommen,

Die Angst der Seele läßt sich nicht bezwingen.
[136]

Jetzt, da erschienen ist die nächt'ge Stunde

Wo du für stets mir sollst entrissen werden,

Ringt sich der Schrei vom langverstummten Munde:

»Ich liebe dich wie weiter nichts auf Erden.«


»Ich liebe dich am unruhvollen Tage

Und in der Nächte stillen Einsamkeiten,

Mit jedem Blick, mit jedem Herzensschlage,

Ich liebe dich für alle Ewigkeiten.«


Doch weh! nicht wie der lyd'sche Fürst beschirmen

Kann ich mein Glück vom grausen Todesstreiche;

Sein Ruf drang siegreich durch des Schicksals Stürmen: –

Der meine klagt nur mehr an einer Leiche.

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Pest; Leipzig 21845, S. 135-137.
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