Gleichstellung

[30] Wer nur erst recht vertraut ist mit des Lebens Kerne,

Der gießt sein Wohlthun aus auf Nahe wie auf Ferne –


Auf jeglich' Menschenbild, gleichviel, ob sich sein Geist

Als ebenbürtig, ob als unterordnet weis't;


Gleichviel, ob er mit ihm durch Lieb' und Treu' verbunden,

Ob er mit ihm sich nie verständigt und gefunden;


Ob dürr des Andern Herz, ob es an Blüthen reich; –

Der Milde Segen thaut – worauf? das gilt ihr gleich.


Dem Freunde thut er wohl, weil es ein Selbstbeglücken,

Des Freundes Lebenspfad zu ebnen und zu schmücken;
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Weil im geliebten Aug' der helle Freudenglanz

Ein Strahl, vor dem erblüht des eignen Lebens Kranz.


Dem Fremden thut er wohl, weil, wenn er hilft und lindert,

Er seine Schuld gen ihn theilweise doch vermindert –


Die große Herzensschuld, die tief ihm ist bewußt:

Daß für den Andern kalt und liebleer seine Brust.


Durch Wohlthun will er nun sich dieser Schuld entled'gen

Und für versagte Huld durch huld'ge That entschäd'gen.


Ihm scheint es doppelt Noth und doppelt heil'ge Pflicht,

Liebthätig da zu sein, wo ihm die Lieb' gebricht.


So gegen Alle gleich, wirst du an seinen Werken,

Wer seinem Herzen fremd, wer theuer, niemals merken

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Pest; Leipzig 21845, S. 30-32.
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