Herbstgefühl

[7] Jetzt, da von kalter Lüfte Schauern

Die Bäume blatt- und blüthenlos,

Fühl' ich in mir ein reuig Trauern,

Daß ich den Frühling nicht genoß.


Er war so schön mit seinen Rosen,

Mit seinem Nachtigallensang,

Mit seines Hauches mildem Kosen

Und seinem frischen Blüthendrang.


Mir aber floß ein Born der Thränen

Inmitten dieser Frühlingslust,

Ich fühlte bei den frohsten Scenen

Den Jammer nur der eignen Brust.
[8]

Und jetzt erst, da die kahlen Bäume

Vom ernsten Winterfrost versehrt,

Reut mich's, daß ich der heitern Träume

Des lichten Frühlings mich erwehrt.


So werd' vielleicht in künft'gen Tagen

An eines andern Herbstes Grenz'

In eitler Sehnsucht bang' ich klagen

Um meines Sein's entfloh'nen Lenz!


O, jetzt schon fühl' ich, wie die Frage

Tief schmerzlich meine Brust durchbebt:

Warum ich meine Frühlingstage

Auf wüster Meeresfahrt verlebt?

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Pest; Leipzig 21845, S. 7-9.
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