Sichere Richtung

[175] Sieh dort durch des Tempelbaues Hallen

Ernst die gottgeweihte Jungfrau wallen!

Eine Lampe, deren Flamme zittert,

Trägt sie, und mit reiner Hand umgittert

Sorglich sie dieß Licht, daß es im Grimme

Rauher Stürme sterbend nicht verglimme.

Nicht vermag es alle dunklen Stellen

Dieses weiten Domes zu erhellen;

Doch genügt's, daß Helle es verbreitet

Auf dem Pfad, auf dem die Jungfrau schreitet,

Daß ihr Schein, der milde, ernste, klare,

Ihr die Richtung zeige zum Altare,

Wo die Perlen ihres sel'gen Sehnens

Thauen, wie der Balsam Magdalenens.[176]

Jener Jungfrau gleichet meine Seele,

Wie sie durch des Lebens Dunkel schreitet,

Nur vom ew'gen Liebesstrahl geleitet,

Daß sie nimmer ihres Weges fehle.

All ihr Denken, Fühlen, Thun und Treiben

Dienet nur die Flamme zu beschirmen,

Daß sie von des Lebens rauhen Stürmen

Unerreicht und unberührt mag bleiben.

Meines Daseins dunkle Schattenmassen

Kann sie nicht zerstreu'n mit mächt'ger Lichtung,

Aber leuchtend weis't sie mir die Richtung

Zu dem Trost nur mehr allein zu fassen;

Sichert mir den Weg, den ich betreten,

Leitet mich mit ihrer frommen Helle

Treulich hin zur wundervollen Stelle,

Wo sich Klagen wandeln zu Gebeten. –

O es gleicht mein unverlöschlich Lieben

Jenem Stern, der einstmals fortgetrieben

Die drei Könige aus ihren Landen,

Der sie über Berg und Meer geführet,

Bis sie endlich, wonnevoll gerühret,

Betend vor dem Gotteskinde standen.

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Pest; Leipzig 21845, S. 175-177.
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