Die Tugend, die ich meine –

[185] Die Tugend, die ich meine,

Für die mein Herz in Brand,

Abhold dem eitlen Scheine,

Trägt sie ein schlicht Gewand.

Sie rührt den Sinn der Menge

Mit holdem Reize nicht;

Aus ihrem Aug' blickt Strenge,

Ernst ist ihr Angesicht.


Spät reifen ihre Saaten,

Und karg scheint ihr Gewinn;

Es reißen ihre Thaten

Nicht zur Bewund'rung hin.

Nach ewig heil'gen Zielen

Fährt sie auf rauher Spur,

Gehaßt, verfolgt von vielen,

Geliebt von wen'gen nur.


Wer kühn sich ihr will weihen,

Der nehme wohl in acht:

Ihm Lorbeer'n zu verleihen,

Steht nicht in ihrer Macht!

Mit schmetternden Fanfaren

Begrüßt ihn nicht der Ruhm

In seinem unscheinbaren,

Selbstlosen Heldentum.
[186]

Sie aber, die er schützet,

Der er sich zugesellt,

Nur sie erhält und stützet

Und trägt den Bau der Welt.

Es ist die Hehre, Reine

Zu höchstem Dienst geweiht!

Die Tugend, die ich meine,

Ist die Gerechtigkeit.

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Auswahl und Nachlaß, Stuttgart 1895, S. 185-187.
Lizenz:
Kategorien: