Ein Gedächtnißtag

[228] Gewichen war der helle Tag

Der Frühlingsnacht, der warmen;

Mit Schauern der Entzückung lag

Ich still in deinen Armen.

Herab auf deine theure Hand

Floß meine Freudenthräne,

Begeistert stürzte in den Brand

Die Seele, die Phaläne!

Ausging von deinem Angesicht

Ein wundersam Geleuchte,

Das von des Himmels Friedenslicht

Ein Abglanz mich bedäuchte!

O wie so süß die Stunde war!

Heut' ist's ein Jahr.
[229]

Vorbei! vorbei! der Blitzstrahl fiel,

Er hat mein Glück getroffen!

Das Schicksal treibt ein frevles Spiel

Mit unserm besten Hoffen;

Von dir geschieden und getrennt,

Verblutend losgerissen,

Von dir, nach dem die Seele brennt,

In ewigem Vermissen,

Scheint mir das Leben arm und leer,

Verächtlich jede Spende,

Nichts wünsche, nichts verlang ich mehr

Als nur ein rasches Ende!

O ständest du an meiner Vahr'

Heut' über's Jahr!

Quelle:
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 21856, S. 228-230.
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