Der Cocosbaum

[134] Vor Zeiten stand an einem heitern Bach

Ein Cocosbaum, in dessen breiten Schatten

Die Vögel oft ihr Kränzchen hatten:

Sie heckten unter seinem Dach,

Sie nährten sich vom Marke seiner Nüsse,

Der Adler selbst verließ Kronions Vorgemach

Und buhlte hier um Zephyrs laue Küsse.

Einst brach ein Wetter aus. Der aufgeschwollne Fluß

Zernagt des Baums entblößte Füße;

Der Hauch des wilden Aeolus

Streift seine Blätter ab, zermalmet seine Früchte.

Die Vögel sahn mit traurigem Gesichte

Herab in der Verwüstung Graus.

O Schade! rief der Geyer aus:

Hier giebt es nun nichts mehr zu knacken,

Ich ziehe fort! Auch ich; versetzt der Specht:

Ich richte nicht; allein der Baum hob seinen Nacken

Auch allzu stolz empor. Die Götter sind gerecht!

Fiel ihm die Elster ein; das hab ich stets gefunden;

O Freunde, seyd ihr klug, so warnt euch dieser Fall! –

Wer ist nicht gerne klug? Auch war in wenig Stunden

Der Vögel ganzes Chor verschwunden.[135]

Nur eine Taube blieb und eine Nachtigall.

Die Taube sprach: wir wollen hier verweilen

Und mit dem Baum, der uns so manches Gute gab,

Sein trauriges Verhängniß theilen.

Ja, Freundin, du hast Recht! sein Grab sey unser Grab,

Versetzt die holde Philomele:

Vielleicht bewegt mein sanftes Klagelied

Noch einen Mann mit einer weichen Seele,

Daß er des Baumes Fuß mit einem Damm umzieht;

Dann lebt er wieder auf und eine neue Krone

Umlaubt sein welkes Haupt. »Ha,« rief in leisem Tone

Die Dryas aus dem Stamm: »Heil dir, du frommes Paar!

Mein Herz vergißt den Hohn der Heuchler und der Feinde,

Und schlägt nur noch für euch. Wenn Unglück, wenn Gefahr

Uns Freunde gibt, so sind es wahre Freunde.«

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 134-136.
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