Das Bildniß

[74] Belinde war das schönste junge Weib;

Doch kein vollkommner Glied fand sich an ihrem Leib,

Als ihre Zunge. Welche Plage

Für ihren guten Mann! Doch war ihr Cleon lieb,

So gern er auch im Trinkgelage

Der Grillen finstern Schwarm vertrieb.

Um unverhofft ihn zu erfreuen,

Ließ sie sich insgeheim von einer Meisterhand

In Lebensgröße conterfeyen

Und hieng das Bildniß an die Wand.

Nun kam der Mann nach Haus, und zwar vom Zechen;

Er sah das Bild – – Sie ists vom Hute bis zum Schuh,

Rief er, und hielt, aus Furcht sie möchte sprechen,

Sich schnell die beyden Ohren zu.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 74-75.
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