Die Urne

[154] Der fromme Bischof Theagen

Entwich in eine dunkle Grotte

Des Pallaswäldchens bey Athen,

Um weit vom Lerm mit seinem Gotte

Und sich vertrauter umzugehn.

Er lebte hier schon sieben Jahre,

Nur von Olympiern gesehn;

Schon fielen seine grauen Haare

Wie Blätter, die der Nord verjagt;

Schon tönten seine Psalmen heiser

Und täglich schlug sein Busen leiser,

An dem schon lang der Krebs genagt.

Er fühlte, daß sein Ende nahte;

Sein welker Arm, der kaum den Stab

Noch halten kann, ergreift die Spate,

Und frölich macht er sich sein Grab.

Itzt ragt was aus dem Schoos der Erde;

Es war ein marmorner Altar,

Der einst der Göttin heilig war.

Doch schnell erhob sich aus dem Herde

Ein kleiner goldner Aschenkrug

Von hellem Sternenglanz umgeben.[155]

Gott! rief der Greis mit heilgem Beben,

Ists Wahrheit? Ist es Augentrug?

Er wagts die Urne wegzuheben,

Die kaum in seinen Händen weilt,

So überströmt ihn neues Leben

Und schon ist seine Brust geheilt.

Der Alte sinkt vor dem Altare

In Thränen auf sein Angesicht:

Verschmähe meine Bitte nicht,

Gott! noch ein Wunder, offenbare

Mir, Herr, wer dein Apostel ist,

Den dieser Aschenkrug verschließt.

Der Grund des Felsen wird erschüttert

Und eine himmlische Gestalt,

Die wie ein Blitz vorüberwallt,

Ruft: Socrates! Der Alte zittert

Und in dem Stralendiadem

Des Krugs, auf den sein Blick sich kehret,

Liest er beschämt: wer Gott verehret

Und recht thut, ist ihm angenehm.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 2, Tübingen 1802, S. 154-156.
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