Klagelied der polnischen Verbannten in Sibirien

[163] (7. Januar 1832.)


Aus den Hütten, die der Schnee bestiebte,

Sammelt euch um dieses Feur, Geliebte!

Laßt in freien Worten Trost uns suchen,

Unsern Würger im Gesang verfluchen.


Wölfe bloß bevölkern hier der Öde

Weiten Raum, den uns bestimmt der Schnöde:

Hat Natur sogar mit ihm im Bunde

Starr bezaubert diese große Runde?


Hat sie solche Wüsten einst erschaffen,

Um der Freiheit Kinder hinzuraffen?

Hat sie ihm zu Lieb dies Eis verdichtet,

Diesen Schnee zu solchen Höhn geschichtet?


Unser König, denn so möcht er heißen,

Läßt von wilden Tieren uns zerreißen!

Und warum? so fragt die Welt beleidigt:

Weil wir unser Vaterland verteidigt!


Hört und staunt, Europas Volksgemeinden!

Unser König wohnt bei unsern Feinden!

Erst des eignen heiligen Schwurs Verächter,

Schickt er endlich alle seine Schlächter!


Kranz des Ruhms, von Vätern einst erworben,

Bist du wirklich völlig abgestorben?

Baum der Freiheit, den wir einst begossen,

Wirst du nie mehr aus der Erde sprossen?


Waren nicht auch wir ein Volk wie eines?

Sind wir würdig schon des Leichensteines?

Darf der Unhold unsres Namens spotten,

Darf er's wagen, selbst uns auszurotten?
[163]

Möcht er uns des irdischen Guts berauben,

Wenn er feindlich nur sich nicht dem Glauben,

Der ans Vaterland sich schließt, erwiese!

Welche Tränen sind gerecht wie diese?


Schuldbewußt verdammt der Überwinder

Selbst die junge Wißbegier der Kinder;

Daß sie nicht im Ehedem sich spiegeln,

Läßt er selbst der Bücher Schatz versiegeln!


Doch umsonst! Welch Volk wir einst gewesen,

Wird der Sohn im Blick des Vaters lesen;

Ja, das Kind, entwachsen edlem Stamme,

Saugt sich Freiheit aus der Milch der Amme.


Ja, zum Himmel steigen unsre Klagen;

Fern hinab durch alle Zeit sie tragen

Werden Dichter einst, durch alle Lande:

Ewig währt, o Wütrich, deine Schande!


Aus der Gruft, in der du uns begraben,

Schwingt der Genius doch sich auf erhaben,

Seine Flügel dehnt er aus gewaltig,

Seine Stimme klingt so silberhaltig!


Diese Worte spricht er zum Despoten:

Bloß dem Leichnam siegst du ob, dem toten,

Während stets der Geist in unserm Volke

Höher strebt als deine Donnerwolke!


Trüge nicht des Menschen Seele Waffen,

Hätte Gott die Welt umsonst erschaffen,

Und der Erdball, über den wir schleichen,

Wär ein Spiel für dich und deinesgleichen!


Zwar Nerone hat es viel gegeben;

Doch sie würgten bloß das einzle Leben;

Völkermörder, aller Scham entblößte,

Gab es wenige, doch du bist der größte!


Magst du denn vernichten und verbannen,

Eure Seelen sind von Stein, Tyrannen![164]

Aber naht ein Augenblick der Rache,

Dann gedenk an deine Schuld, o Drache!


Was wir ächzten unter deinen Füßen,

Wird der Sohn, es wird's der Enkel büßen!

Mehr als eine Krone wird zerbrechen,

Denn den Himmel kannst du nicht bestechen!


Ein Harmodius wird zuletzt sich finden,

Wird ums blutige Schwert die Myrte winden:

Dann, o dann auf unsere Gräber pflanze

Einen Zweig er aus dem schönsten Kranze!


Quelle:
August Graf von Platen: Werke in zwei Bänden. Band 1: Lyrik. München 1982, S. 163-165.
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